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Traumreisende

Traumreisende

Titel: Traumreisende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlo Morgan
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vor und schloss immer mit Geoff, indem er darauf hinwies, wie überaus christlich es von ihnen sei, den Nachkommen fremder, heidnischer Wilder in ihren ansonsten sehr weißen Kreis aufzunehmen. Geoff diente als Beispiel für die Gemeinde. Er lernte, hoch aufgerichtet und mit einem Lächeln dazustehen, während sein Familien-und Kirchenoberhaupt wiederholt erklärte, jeder müsse seine Feinde lieben, Unwissenheit verzeihen, für die Heiden beten, die Wilden bekehren und das Böse und Satans Werk durch die Ausmerzung unzivilisierter Kulturen auslöschen.
    Es war sehr verwirrend für Geoff, der montags und dienstags das Gefühl hatte, Fortschritte zu machen und ein Teil von Gottes Familie zu werden, nur um jeden Mittwoch als Beispiel für verlorene Seelen überall zur Schau gestellt zu werden. Es wurde zu einem Spiel, einem Scherz, einer Rolle, die er spielte und die ebenso überzeugend war wie die Stimme im Radio aus
    »As The World Turns« und »The Life of Stella Dallas«, denen Nora andächtig lauschte. Inzwischen hatte er gelernt, dass Affen die Attraktion von Leierkastenmännern waren, und verglich seine Situation mit der von gefangenen Tieren. Soweit er wusste, gab es in ganz Vermont außer ihm keine andere dunkelhäutige Person.
    An einem Mittwochabend merkte Geoff, dass der Reverend die Bibliotheksbücher über die Ureinwohner Australiens gelesen hatte. Seine Predigt an diesem Abend handelte von einem Volk, das so primitiv wäre, dass es keine geschriebene Sprache besaß, nicht wüsste, wie man Häuser errichtet oder Nahrungsmittel anbaute, und keine Vorstellung von der Liebe Jesu und der Erlösung des Himmels hätte. Geoff fühlte sich gedemütigt. Er hätte den Marshalls gern erklärt, dass sein Interesse an den Aborigines nicht darin bestehe, herauszufinden, wie sie waren, sondern sie wissen zu lassen, wer er war und worum es ihm ging. Aber er schwieg. Australien lag jenseits des Ozeans, und er war sicher, niemals an diese Ufer zurückkehren zu können.
    Seine beiden Brüder standen ihm niemals nahe. Sie waren natürlich viel jünger und hielten zusammen. Wenn einer von ihnen ein Spielzeug kaputtmachte, wurde immer Geoff die Schuld gegeben, und ihr Wort stand gegen seines. Er konnte sich nicht verteidigen. Niemand wollte sich seine Seite der Geschichte anhören, und deswegen war es ein ständiger vergeblicher Kampf.
    Als er ein wenig älter wurde, war Geoff in der Schule nicht mehr gut. Er begriff zwar den Lehrstoff, aber er hatte kein Interesse an dem, was er lernen sollte, und so tat er nur das Minimum. Er fragte nie, wieso seine Kleider aus Gebrauchtwarenläden stammten, während die Marshall-Jungen Sachen aus dem Warenhaus trugen, oder warum er in einer dunklen Ecke des Kellers schlief, während die beiden anderen Jungen das sonnige Eckzimmer bewohnten. Er fragte niemals, weil er wusste: Er gehörte nicht hierher. Er gehörte nirgends dazu.
    Als er vierzehn war, zogen die Marshalls nach Texas. Geoff war sprachlos. Offenbar hatte die Familie darüber geredet und die Jungen langsam dazu gebracht, den Umzug zu akzeptieren, aber Geoff erfuhr erst am Tag ihrer Abreise davon. Er durfte sich nicht von seinem einzigen Freund, Schroeder, verabschieden. In Texas machten Mexikaner, Indianer und Schwarze einen großen Teil der Bevölkerung aus. Geoff wurde oft für einen der einheimischen Farbigen gehalten, da anscheinend niemand in diesem Staat jemals von australischen Aborigines gehört hatte. Er empfand die Jahre in Texas als seine besten in der Schule, nicht wegen seiner theoretischen Leistungen, sondern weil er akzeptiert wurde, und zufällig gehörte er der härtesten und am meisten gefürchteten Gruppe von Schülern an. Heimlich vertrauten ihm seine Freunde einer nach dem anderen allerdings an, dass sie durchaus den Wunsch hätten, Lesen, Schreiben und Mathematik zu lernen.
    Geoff fand es am besten, sich dem neuen Lebensstil anzupassen; dazu gehörte, dass er lernte, wie man flucht, raucht, Alkohol trinkt und stiehlt, aber er kümmerte sich auch fürsorglich um seine Kameraden. Sobald er Freunde hatte, geriet er in Konflikt mit dem Gesetz.
    Zuerst nur wegen Schuleschwänzens, dann, weil man ihn bei verbotenem Alkoholgenuss erwischte. Man ertappte ihn auch beim Autofahren, bevor er alt genug für den Führerschein war, und er wurde wegen dieses Verstoßes verhaftet. Er weigerte sich, weiterhin zur Kirche zu gehen, und nahm die Bemerkungen und die körperlichen Misshandlungen durch die beiden Marshall-Jungen

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