Traumreisende
sich uns angeschlossen haben, zu respektieren. Einige beispielsweise sprechen niemals über jemanden, der nicht anwesend ist, und andere kommen aus einem Stamm, der niemals jemanden erwähnt, der verstorben ist. Natürlich haben wir von diesen Traditionen erst erfahren, als wir die Fehler begangen hatten, dagegen zu verstoßen. Die anderen haben gelernt, indem sie geduldig waren und uns unsere Unwissenheit vergaben. Allein um eine unverheiratete Frau wie dich zu bezeichnen, könnte es sechs oder sieben Begriffe geben. Ich glaube, es ist am besten, wenn wir Englisch sprechen; du wirst die notwendigen Wörter, die du brauchst, in Zukunft lernen.«
Wie am Vortag kniete Benala nieder und brachte ihr Erdbett wieder in den ursprünglichen Zustand. Beatrice tat es ihr nach und stellte fest, dass es nicht so einfach war, wie es aussah, die Abdrücke ihres Körpers fortzublasen.
»Warum gab es vor langer Zeit so viele Stämme?« wollte Beatrice wissen, deren Kopf bereits voller Fragen war.
»Ich glaube, die Natur ist einfach so. Als die Menschen sich vermehrten, schlössen sie enge Freundschaften. In erster Linie der Nahrung wegen gingen Freunde vermutlich zusammen fort und lebten auf eine Weise, mit der alle Beteiligten einverstanden waren. Aber Werte, Überzeugungen und Zeremonien waren im ganzen Land ein wenig unterschiedlich.«
Die Schlangenhaut von der gestrigen Mahlzeit hing an einem nahen Busch. Benala nahm sie und hängte sie sich für die weitere Wanderung wieder an den Gürtel. Dann stellte sie sich breitbeinig hin, die Arme über den Kopf erhoben und sagte lautlos etwas zu dem Tag. Als ihr Morgenritual beendet war, betrachtete sie ihre neue Reisegefährtin. Ohne zu reden, einfach nebeneinander hergehend, begannen sie die nächste Tagesreise. Eine Frau ging denselben Weg zurück, den sie schon viele Male gegangen war; die andere betrat eine ganz neue Welt.
Die Wanderung dieses Morgens führte sie durch dichtes Buschland, wo grüne Äste, manchmal voller Dornen, aus dem Weg gehalten werden mussten, damit sie darunter durchkriechen konnten. Während sie sich vorankämpften, stellte Beatrice ihrer Freundin eine ernste Frage: »Benala, warum - glaubst du - hat unser Volk hier seit Zehntausenden von Jahren gelebt und niemals ein Alphabet oder eine Schriftsprache entwickelt? Ich habe unsere Kultur gegen die Kritik von Leuten verteidigt, die behaupten, wir wären intellektuell minderwertiger. Kennst du den Grund?«
»Ja«, antwortete die ältere der beiden Aborigine-Frauen. »Der Preis war zu hoch! Unsere Leute sagten zu den Briten, die die Gefangenen in Gebäude steckten und zwingen wollten, Lesen und Schreiben zu lernen, sie würden lieber sterben. Der Preis wäre zu hoch! Sie würden sterben, bevor sie den Preis verlorener Erinnerung bezahlten. Wenn unseren Kindern etwas vermittelt wird, einem Schüler, dann geschieht das nicht durch einen einzigen Lehrer. Es geschieht im Kreis einer Gruppe von Lehrern. Auf diese Weise wird nichts vergessen, nichts wird hinzugefügt, und die Deutung durch eine Person wird nicht als Tatsache gelehrt. Wir lernen aus der Geschichte, die in Liedern und Tänzen in Musik umgesetzt ist, und das ist nicht viel anders als in der Welt der Veränderten<, wo das Abc mit einer Art musikalischem Rhythmus gelehrt wird. Dinge, die niedergeschrieben sind, bleiben selten viele Jahre lang unverändert. In der Vergangenheit benutzte unser Volk die stille Kommunikation von Kopf zu Kopf und Herz zu Herz. Du wirst sehen, dass mein Stamm diese Fähigkeit nicht verloren hat, aber sie basiert darauf, dass man keine Geheimnisse hat und keine Lügen ausspricht. Wenn du dir etwas aufschreibst, glaubst du leicht, du brauchtest es dir nicht einzuprägen, weil du es ja später nachlesen kannst. Leider führt das zu geistiger Faulheit. Deine Macht geht auf ein Stück Papier über. Die Menschen können sich an die einfachsten Dinge nicht erinnern, etwas, was sie gestern getan oder vorgestern gegessen haben.
Die Menschen, die aufs Schreiben versessen sind, schauen sich um, vergleichen sich mit anderen in ihrer Gesellschaft und kommen zu dem Schluss, es sei normal, dass Menschen ein schlechtes Gedächtnis haben. Das führt zurück zu der Frage: Ist das eine Tatsache oder nur eine Überzeugung?«
Benala grinste, und die geöffneten Lippen ließen ihre von Natur aus schneeweißen Zähne sehen, als sie fortfuhr: »Unsere Menschen haben sich mit hundert Jahren doppelt soviel eingeprägt wie mit fünfzig. Wir haben uns
Weitere Kostenlose Bücher