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Traumsammler: Roman (German Edition)

Traumsammler: Roman (German Edition)

Titel: Traumsammler: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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zukehrte und in ihrer Tasche wühlte, drückte Parwana die Handflächen auf den Ast, stemmte sich hoch und ließ sich wieder auf das Holz sacken. Der Ast schwankte, und Masooma, die das Gleichgewicht verlor, rang um Atem. Sie ruderte mit den Armen. Sie kippte nach vorn. Parwanas Hände bewegten sich wie losgelöst von ihrem Körper. Nicht, dass sie ihre Schwester geschubst hätte, aber ihre Fingerspitzen berührten kurz Masoomas Rücken, gaben ihr einen leichten Stoß. Im nächsten Augenblick versuchte Parwana aber schon, ihre Schwester festzuhalten. Masooma rief panisch nach Parwana, und Parwana rief nach Masooma und packte ihr Kleid, und es sah kurz so aus, als könnte sie ihre Zwillingsschwester retten. Aber dann riss der Stoff.
    Masooma stürzte vom Baum. Ihr Sturz schien endlos lange zu dauern. Sie knallte mit dem Oberkörper gegen die Äste, scheuchte Vögel auf und riss Blätter mit sich, ihr Körper wurde herumgewirbelt, prallte ab und zerbrach Zweige und schlug dann weiter unten mit dem Steißbein auf dem dicken Ast auf, an dem die Schaukel hing. Ihr Rücken klappte mit einem grauenhaft lauten Knacken im nahezu rechten Winkel nach hinten.
    Wenige Minuten später war sie von Menschen umringt. Nabi und sein Vater versuchten weinend, sie zu Bewusstsein zu bringen. Alle blickten auf sie hinab. Irgendjemand griff nach ihrer zur Faust geballten Hand. Man zwängte die Finger auseinander und fand kleine Blätter darin. Es waren genau zehn.
    * * *
    Masooma sagt mit leise bebender Stimme: »Du musst es jetzt tun. Morgen fehlt dir der Mut.«
    Ringsumher, jenseits des schwachen Scheins des Feuers, das Parwana mit Strauchholz und dürrem Unkraut entfacht hat, verschluckt die Dunkelheit die endlose, öde Weite aus Sand und Bergen. Sie ziehen auf ihrem Weg nach Kabul seit fast zwei Tagen durch diese trostlose Landschaft. Parwana geht neben dem Maultier und hält die Hand der auf dem Sattel festgeschnallten Masooma. Sie trotten auf gewundenen, abwechselnd steil ansteigenden und abfallenden Pfaden über die Felsenkämme. Der Boden ist von hellbraunen und rostroten Wildkräutern bedeckt, und dazwischen ziehen sich Risse in alle Richtungen wie die Fäden eines Spinnennetzes.
    Parwana steht vor dem Feuer und betrachtet Masooma, die auf der anderen Seite der Flammen liegt und an einen Hügel aus Decken erinnert.
    »Und Kabul?«, fragt Parwana, obwohl sie inzwischen weiß, dass die Stadt nur ein Vorwand war.
    »Du bist doch die Kluge von uns beiden.«
    Parwana sagt: »Das kannst du nicht von mir verlangen.«
    »Ich bin müde, Parwana. Ich habe kein Leben mehr. Mein Dasein ist eine Strafe für uns beide.«
    »Wir sollten umkehren«, sagt Parwana, der es allmählich die Kehle zuschnürt. »Ich kann das nicht tun. Ich kann dich nicht zurücklassen.«
    »Das tust du nicht.« Masooma beginnt zu weinen. »Ich verlasse dich . Ich gebe dich frei.«
    Parwana denkt an einen lange zurückliegenden Abend, als sie Masooma auf der Schaukel Anschwung gab. Sie schaute ihrer Schwester zu, die ihre Beine lang ausstreckte und den Kopf weit in den Nacken warf, wenn sie nach oben sauste, und ihr langer Haarschopf flatterte wie ein Laken auf der Leine. Sie kann sich noch an jedes einzelne der aus Kornähren gebastelten Püppchen erinnern, für die sie Hochzeitskleider aus Lumpen nähten.
    »Ich möchte dich etwas fragen, Schwester.«
    Parwana blinzelt die Tränen weg, die ihre Sicht trüben, und wischt sich mit dem Handrücken die Nase ab.
    »Sein Sohn, Abdullah. Und das Baby. Pari. Könntest du sie lieben wie deine eigenen Kinder?«
    »Masooma.«
    »Na sag schon?«
    »Ich könnte es versuchen«, sagt Parwana.
    »Gut. Dann heirate Saboor. Kümmere dich um seine Kinder. Bekomme eigene.«
    »Er hat dich geliebt.«
    »Er wird auch dich lieben. Warte nur ab.«
    »Es ist alles meinetwegen«, sagt Parwana. »Es ist meine Schuld. Alles.«
    »Ich weiß nicht, was du da redest, und ich will auch nichts mehr davon hören. Ich habe nur noch einen Wunsch. Die Leute werden es verstehen, Parwana. Mullah Shekib hat ihnen sicher schon alles erzählt. Er wird ihnen sagen, dass er mir für mein Vorhaben seinen Segen gegeben hat.«
    Parwana schaut zum dunklen Himmel auf.
    »Sei glücklich, Parwana. Bitte. Um meinetwillen.«
    Parwana ist versucht, alles zu gestehen, Masooma zu sagen, wie sehr sie sich irrt, wie wenig sie die Schwester kennt, mit der sie den Mutterleib geteilt hat, und dass Parwanas Leben seit vielen Jahren eine unausgesprochene Entschuldigung ist.

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