Traumsammler: Roman (German Edition)
angesichts seines kläglichen Zustands. Wenn jemand sein Zimmer betrat, winkte er die Person zornig mit der linken Hand weg. Wenn jemand mit ihm sprach, wandte er den Kopf ab. Wenn sich jemand zu ihm auf das Bett setzte, packte er die Decke, brummte und hämmerte mit der Faust so lange auf seine Hüfte ein, bis der Besucher wieder verschwand. Das galt auch für Pari, obwohl er ihr gegenüber weniger hart war. Wenn sie mit ihren Puppen neben seinem Bett spielte, sah er zu mir auf, mit bebendem Kinn und Tränen in den Augen, bis ich sie endlich aus dem Zimmer brachte – er versuchte gar nicht erst, mit ihr zu reden, weil er wusste, dass sie das erschreckt hätte.
Für Nila war es eine Erleichterung, als der große Exodus der Besucher begann. Solange das Haus voller Menschen gewesen war, hatte sie sich mit Pari in deren Schlafzimmer zurückgezogen, zum tiefen Missfallen ihrer Schwiegermutter, die zweifellos erwartete – und wer wollte ihr das verübeln? –, dass Nila an der Seite ihres Mannes wachte, und sei es nur, um den Anschein zu wahren. Das war Nila natürlich egal, und wie man über sie redete, kümmerte sie ebenso wenig. Und es wurde viel geredet. »Was ist das für eine Ehefrau?«, hörte ich die Mutter einmal ausrufen. Sie beklagte sich bei jedem, der es hören wollte, über Nilas Herzlosigkeit und Seelenlosigkeit. Wo war sie jetzt, da ihr Mann sie brauchte? Wie konnte diese Frau ihren treuen, liebenden Ehemann so im Stich lassen?
Die Klagen der alten Dame waren nicht ganz unberechtigt. Denn ich war es, der rund um die Uhr für Herrn Wahdati sorgte. Ich gab ihm die Medikamente. Ich begrüßte jeden, der ihn besuchen wollte. Ich führte fast alle Gespräche mit dem Arzt, und deshalb erkundigte man sich bei mir und nicht bei Nila, wie es um Herrn Wahdati stand.
Der Hinauswurf der Besucher war eine Erleichterung für Nila, stellte sie aber auch vor ein großes Problem. Denn durch ihren Rückzug in Paris Zimmer hatte sie sich nicht nur von ihrer unangenehmen Schwiegermutter, sondern auch von dem ferngehalten, was von ihrem Mann noch übrig war. Nun, da das Haus leer war, sah sie sich mit ehelichen Pflichten konfrontiert, für die sie so wenig geschaffen war wie kaum jemand sonst.
Sie konnte diese Pflichten nicht erfüllen.
Und sie tat es auch nicht.
Nicht, dass sie grausam oder hartherzig gewesen wäre. Ich habe ein langes Leben hinter mir, Mr Markos, und deshalb weiß ich, dass man sich bei der Beurteilung der innersten Herzensregungen eines Menschen um Demut und Nachsicht bemühen soll. Die Sache sah folgendermaßen aus: Als ich eines Tages das Schlafzimmer von Herrn Wahdati betrat, sah ich Nila schluchzend auf seinem Bauch liegen, einen Löffel in der Hand. Püriertes Linsen- daal tropfte vom Kinn ihres Mannes auf die um seinen Hals gebundene Serviette.
»Überlassen Sie das mir, Bibi Sahib«, sagte ich sanft. Ich entwand ihr den Löffel, wischte den Mund ihres Mannes ab und wollte das Füttern übernehmen, aber er stöhnte, kniff die Augen zu und drehte sich weg.
Bald darauf schaffte ich zwei Koffer nach unten und übergab sie einem Fahrer, der sie im Kofferraum seines Wagens verstaute. Dann half ich Pari, die ihren gelben Lieblingsmantel trug, auf die Rückbank.
»Besuchst du uns mit Papa in Paris, Nabi, wie Maman gesagt hat?«, fragte sie, und zeigte beim Lächeln ihre Zahnlücken.
Aber sicher, antwortete ich, nur müsse sich ihr Vater erst erholen. Ich küsste ihre kleinen Hände. »Ich wünsche dir Glück und ein frohes Herz, Bibi Pari«, sagte ich.
Als ich wieder ins Haus ging, kam Nila gerade die Treppe hinunter. Ihre Augen waren verquollen, der Eyeliner war verschmiert. Sie hatte sich soeben von ihrem Mann verabschiedet.
»Er ist erleichtert, nehme ich an«, sagte sie und fügte dann hinzu: »Aber das ist vielleicht nur Wunschdenken.« Sie zog ihre Handtasche zu und hängte sie sich über die Schulter.
»Bitte sag niemandem, wohin wir reisen. Es sollte besser geheim bleiben.«
Ich versprach, es für mich zu behalten.
Sie sagte, sie werde mir bald schreiben. Danach sah sie mir lange in die Augen. In ihrem Blick schien echte Zuneigung zu liegen. Sie strich mir über die Wange.
»Ich bin froh, dass du bei ihm bist, Nabi.«
Dann zog sie mich an sich und drückte mich. Ihre Wange berührte meine, und ich roch ihr Haar, ihren Duft.
»Du warst es, Nabi«, flüsterte sie mir ins Ohr. »Nur du. Die ganze Zeit. Hast du das nicht geahnt?«
Ich begriff nicht, und sie riss sich von mir los,
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