Traumsammler: Roman (German Edition)
Teppiche aus.
Eines Tages fegte ich im Zimmer von Herrn Wahdati die Spinnweben von den Stuckaturen. Das war im Sommer, und es herrschte große Hitze. Ich hatte Herrn Wahdati von allen Decken und Laken befreit, die Beine seines Pyjamas hochgekrempelt und die Fenster geöffnet. Der Ventilator surrte schwach unter der Decke, half aber kaum, denn die Hitze war zu groß.
Im Zimmer stand ein großer Kleiderschrank, den ich schon seit längerem hatte putzen wollen, und an jenem Tag beschloss ich, die Sache endlich anzugehen. Ich schob die Türen auf und begann, jeden Anzug einzeln auszuklopfen, obwohl Herr Wahdati sie wahrscheinlich niemals wieder tragen würde. Im Schrank lagen Stapel verstaubter Bücher, die ich auch abwischte. Ich putzte seine Schuhe mit einem Lappen und reihte sie ordentlich auf. Dann stieß ich auf einen großen Pappkarton, fast verdeckt von mehreren langen Wintermänteln, und klappte ihn auf. Er war randvoll mit alten Skizzenbüchern, alle übereinandergestapelt, jedes von ihnen ein trauriges Relikt des früheren Lebens von Herrn Wahdati.
Ich nahm das oberste Skizzenbuch zur Hand, schlug es auf – und fast hätten meine Beine unter mir nachgegeben. Ich blätterte das ganze Skizzenbuch durch, legte es weg, nahm ein zweites, dann ein drittes, dann ein viertes zur Hand. Ich sah eine Seite nach der anderen durch, immer mit einem leisen Seufzer, denn jede hatte den gleichen, mit Holzkohle gezeichneten Gegenstand. Einmal polierte ich, vom Erker des oberen Schlafzimmers aus gesehen, einen Kotflügel des Autos. Einmal lehnte ich vor der Veranda auf einer Schaufel. Die Skizzen zeigten mich beim Binden meiner Schnürsenkel, bei einem Nickerchen, beim Holzhacken, beim Einschenken von Tee, beim Beten oder Bewässern der Sträucher. Eine Skizze zeigte das am Ghargha-See stehende Auto mit mir am Lenkrad, einen Arm aus dem offenen Fenster gehängt, auf dem Rücksitz eine angedeutete Gestalt, am Himmel kreisende Vögel.
Du warst es, Nabi.
Nur du. Die ganze Zeit.
Hast du das nicht geahnt?
Ich schaute zu Herrn Wahdati. Er lag auf der Seite, schlief tief und fest. Ich legte die Skizzenbücher behutsam zurück in den Karton, schloss den Deckel und schob ihn unter den Wintermänteln in die Ecke. Dann verließ ich das Schlafzimmer, schloss leise die Tür, um ihn nicht zu wecken. Ich ging durch den dämmrigen Flur und dann die Treppe hinunter. Ich hatte das Gefühl, mir selbst dabei zuzusehen, wie ich mich mechanisch bewegte. Dann trat ich in die Hitze des Sommertages, lief auf der Einfahrt bis zum Tor, stieß es auf und folgte mit langen Schritten der Straße, bog um eine Ecke, ging weiter, immer weiter, ohne mich ein einziges Mal umzublicken.
Wie konnte ich jetzt noch bleiben? Meine Entdeckung widerte mich weder an, noch schmeichelte sie mir, Mr Markos, aber mir war mulmig zumute. Ich überlegte, wie es wäre, trotzdem zu bleiben. Was ich da entdeckt hatte, warf einen Schatten auf alles, und ich konnte es nicht verdrängen oder einfach vergessen. Aber konnte ich ihn jetzt, in diesem hilflosen Zustand, im Stich lassen? Nein, ich musste erst jemanden finden, der meine Pflichten übernahm. Das war ich Herrn Wahdati schuldig, denn er war immer gut zu mir gewesen, obwohl ich hinter seinem Rücken alles versucht hatte, um ihm seine Frau auszuspannen.
Ich kehrte ins Haus zurück und setzte mich im Esszimmer an den Glastisch. Schwer zu sagen, wie lange ich dort reglos saß, Mr Markos, aber irgendwann hörte ich, wie sich oben etwas tat, und als ich blinzelte, wurde mir bewusst, dass sich das Licht verändert hatte. Also erhob ich mich und setzte Teewasser auf.
* * *
Eines Tages ging ich nach oben in sein Schlafzimmer und sagte ihm, dass ich eine Überraschung für ihn hätte. Das war irgendwann während der späten 50er, lange bevor das Fernsehen in Kabul Einzug hielt. Wir vertrieben uns die Zeit mit Kartenspielen, neuerdings auch mit Schach. Er hatte es mir beigebracht, und wie sich zeigte, war ich nicht ganz unbegabt. Wir verbrachten viel Zeit mit Leseübungen. Er erwies sich als geduldiger Lehrer. Er lauschte mit geschlossenen Augen und schüttelte leise den Kopf, wenn ich einen Fehler machte. Noch einmal , sagte er dann, denn er konnte zu jenem Zeitpunkt schon sehr viel besser sprechen. Noch einmal vorlesen, Nabi. Dank Mullah Shekib war ich zwar kein Analphabet, als er mich 1947 eingestellt hatte, aber meine Lesefähigkeit – und infolgedessen auch mein Schreiben – verbesserte sich erst durch Herrn
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