Traumschlange (German Edition)
die ‚1’. Es klingelte nur einmal, dann wurde am anderen Ende abgehoben.
„Ja?“, meldete sich die Stimme von Corinne Savalle, der Leiterin der Verwaltung.
„Hallo, ich bin es, Jean.“
„Was kann ich für dich tun? Sag nicht, du brauchst Geld für neue Medikamente! Wir haben kein Geld!“
Patrick schmunzelte. Corinne war eine fast sechzigjährige Französin, die seit über 30 Jahren auf Haiti lebte und ständig gute Laune verbreitete. Sie war die Seele des Krankenhauses, und wenn er tatsächlich ein dringendes Medikament benötigte, setzte die Verwaltungschefin Himmel und Hölle in Bewegung, um es zu besorgen.
„Nein. Diesmal will ich kein Geld von dir.“
„Ah, mal etwas ganz Neues. Du rufst an, um mit mir zu flirten.“
„Wieder falsch. Du bist zu jung für mich.“
Corinne Savalle prustete ins Telefon. “Das war mit Sicherheit die charmanteste Lüge, die ich in meinem Leben gehört habe. Also, um was geht es dann?“
„Du erinnerst dich vielleicht an den Todesfall der jungen Engländerin hier am Krankenhaus. Linda Summers. Sie wurde letzte Woche spät nachts eingeliefert und verstarb am frühen Morgen.“
„Ja, wir haben darüber geredet.“
„Gerade war ihre Schwester hier.“
„Ihre Schwester?“
„Sie ist gestern in Haiti eingetroffen, um die Rückführung des Leichnams nach England zu organisieren. Sie fragte mich nach den Einzelheiten der Krankheit, aber ich wusste zu wenig über den Fall. Muncine hatte Dienst, als sie aufgenommen wurde. Er hat auch die offizielle Sterbeurkunde unterschrieben.“
„Und?“
„Muncine ist unterwegs, also konnte ich ihn nicht fragen. Und im Computer finde ich Linda Summers Patientendaten nicht.“
Für einen Moment herrschte Schweigen. Lediglich das Knacken der Verbindung drang noch aus dem Hörer. Dann sagte Corinne Savalle: „Unmöglich! Ich habe letztes Wochenende die Krankenhausdateien auf den neusten Stand gebracht und Linda Summers Daten eingeben. Wir müssen mit dem Gesundheitsministerium abrechnen, auch wenn die uns kaum noch Mittel zur Verfügung stellen.“
„Aber ich finde nichts.“
„Augenblick.“
Jean konnte das hektische Klappern der Computertastatur hören. Dann ein Seufzen.
„Du hast Recht. Linda Summers steht nicht in unserem Computer. Ich verstehe das nicht.“
„Hast du noch die Originalunterlagen?“
„Ja, die müssen hier irgendwo sein.“
„Suchst du sie für mich heraus und sagst mir Bescheid?“
„Du hörst von mir.“
Mitchard legte den Hörer auf die Gabel. Im Moment konnte er nicht mehr tun. Auf der Station warteten die Patienten auf ihn. Er nahm sein Stethoskop von der Schreibtischplatte und hängte es sich um. Heute Abend, wenn er nicht zu müde war, würde er die Sache weiter verfolgen.
7. Sechzig Dollar
Der Beamte sah aus wie Beamten überall auf der Welt aussehen. Unscheinbar, mit missmutigem Gesichtsausdruck, so als ahne der schon die kommenden Unannehmlichkeiten, sah er Abby hochmütig an. Wahrscheinlich gibt es eine Gussform für Staatsdiener, dachte Abby.
Sie und Patrick Ferre saßen auf zwei harten Holzstühlen, deren gerade Lehnen, es unmöglich machten, bequem zu sitzen. Ohne Ferres Hilfe würde sie immer noch durch das riesige Kolonialgebäude irren und versuchen, die französischen Bezeichnungen der einzelnen Abteilungen zu entziffern. Patrick hatte lediglich fünf Minuten gebraucht, um herauszufinden welcher Beamte für sie zuständig war. Nun saßen in einem Büro, dessen Ausmaße nur knapp unter dem von Abbys Hotelzimmer lagen und warteten darauf, dass der Beamte die Ausfuhrgenehmigung für einen Leichnam ausfüllte. Abby hatte ihm ihr Anliegen in Englisch vorgetragen, aber seitdem sie dem Mann die Sterbeurkunde ausgehändigt hatte, war nicht viel geschehen. Der Beamte hatte kurz das Telefon abgehoben und etwas auf Kreolisch gesagt. Nun schwiegen beide Seiten und starrten sich an.
„Worauf warten wir eigentlich?“, flüsterte Abby Patrick zu.
„Er hat angeordnet, ihm die nötigen Unterlagen zu schicken.“
„Das war vor zehn Minuten.“
„Wenn der Bürobote in der nächsten halbe Stunde kommt, können wir von Glück reden.“
„Himmel“, stöhnte Abby.
„Nein, Haiti“, erwiderte Ferre gelassen.
„Gefällt Ihnen Ihr Aufenthalt auf unserer Insel?“, begann der Beamte ein Gespräch, um sich die Zeit zu vertreiben.
Abby blickte in das schwarze Gesicht. Der Mann hatte fein geschnittene Züge, aber Zähne, die aussahen als habe er seit Jahren keine
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