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Traumschlange (German Edition)

Traumschlange (German Edition)

Titel: Traumschlange (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Wekwerth
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Ausbruch. Sie konnte spüren, wie sich ihre Lungen zusammenzogen. Ein Anfall stand unmittelbar bevor. Sie griff nach ihrer Handtasche und begann fieberhaft nach dem Sedacanol zu suchen.
    „Leider, nein. Aber ich werde nachforschen. Ist Ihnen nicht gut?“
    Abby hörte die letzten Worte nicht mehr. Der Asthmaanfall hatte sie im Griff. Würgend versuchte sie Luft in ihre gepeinigten Lungen zu pumpen, aber durch die Verkrampfung konnte sie nur noch wenig Sauerstoff einatmen.
    „Das...Sedacanol...meine Handtasche...“, keuchte Abby. Ihr Gesicht hatte eine ungesunde Färbung angenommen. Die Lippen wirkten blau als wären sie mit Tinte gefüllt.
    Ferre reagierte augenblicklich. Er riss Abby die Handtasche aus den Fingern und drehte sie um. Es gab ein metallisches Geräusch, als der Inhalator auf den Parkettboden polterte. Patrick griff danach und schob Abby das Mundstück zwischen die zusammengepressten Lippen. Sein Daumen presste den Druckknopf herunter. Einmal. Zweimal. Dreimal pumpte er eine Dosis des Medikaments heraus.

Abbys Mund hatte sich regelrecht an dem kleinen Zylinder festgesaugt. Ihr Brustkorb hob und senkte sich hektisch, aber schließlich tat das Sedacanol seine Wirkung. Ihr Atem wurde gleichmäßiger. Noch immer zitternd schob sie Ferres Hand mit dem Inhalator beiseite.
    „Danke... es geht schon wieder.“
    „Sie leiden an Asthma, nicht wahr?“
    „Ja. Normalerweise haben meine Medikamente die Krankheit im Griff, aber wenn ich mich zu sehr aufrege, bekomme ich einen Anfall.“ Ihre Augen fixierten den eingeschüchterten Beamten, der sich die ganze Zeit keinen Zentimeter von seinem Platz gerührt hatte. „So, wie in diesem Fall.“
    „Madame, es tut mir leid, wenn ich Ihnen...“, versuchte sich der Mann zu entschuldigen.
    „Morgen früh um zehn Uhr bin ich wieder in Ihrem Büro. Dann erwarte ich von Ihnen, die Urne mit den sterblichen Überresten meiner Schwester, zusammen mit einer Ausfuhrgenehmigung ausgehändigt zu bekommen.“
     
     
    Draußen war es noch heißer geworden. Die Sonne stand hoch am Himmel. Die Luft kochte. Abby lehnte sich neben dem Gebäudeeingang an die Wand. Das Atmen fiel ihr noch schwer, aber wenigstens pfiff ihre Lunge nicht mehr wie eine alte Dampfturbine. Die Hände gegen den kühlen Stein gelegt, die Augen geschlossen, dachte sie über dieses Land nach. Haiti war ein Alptraum. Nichts schien hier normal zu sein. Für alles gab es Regeln, die sie nicht verstand und ehrlich gesagt, auch gar nicht verstehen wollte. Wäre es nicht um die sterblichen Überreste ihrer Schwester gegangen, Abby wäre mit dem nächsten Flugzeug, das Port-au-Prince verließ, abgereist. So musste sie wohl oder übel noch einen weiteren Tag ausharren.
    Wie hatte Linda bloß hier leben können?
    Obwohl sie die Augen geschlossen hielt, spürte Abby wie ein Schatten auf sie fiel. Patrick Ferre.
    „Alles in Ordnung? Soll ich Sie zu einem Arzt bringen?“, fragte er schüchtern.
    Abby schüttelte den Kopf.
    „Sie haben ihm Geld gegeben. Wie viel und wofür?“, fragte sie stattdessen.
    Seine Jeans knisterte, als er sich neben sie an die Wand lehnte. Abby hörte das Rascheln einer Zigarettenpackung und kurz darauf das Schnippen eines Feuerzeugs. Obwohl sie Nichtraucherin war, empfand sie den Geruch der brennenden Zigarette als tröstlich. Linda hatte geraucht.
    „So laufen die Dinge in Haiti nun mal“, erklärte Patrick. „Wenn Sie etwas möchten, müssen Sie auch etwas dafür geben.“
    „In England kommen wir ohne Bestechung aus.“
    „England ist im Augenblick sehr weit weg.“
    „Erinnern Sie mich nicht daran. Wie viel war es?“
    „Vergessen Sie es.“
    „Wie viel?“, blieb Abby beharrlich.
    „Sechzig Dollar.“
    „Sechzig Dollar?“
    „Der Typ hätte uns noch den ganzen Tag warten lassen. Das war es mir wert.“
    „Ich gebe Ihnen das Geld. Nur einen Moment noch.“
    „Behalten Sie es. Kaufen Sie sich etwas Schönes stattdessen.“
    Abby schlug die Augen auf. Sie forschte in Ferres Gesicht, ob die letzte Bemerkung sarkastisch gemeint war. Anscheinend nicht. Er sah sie ernst an.
    „Was soll ich mir hier wohl kaufen?“, höhnte Abby. „Eine Voodoo-Puppe vielleicht?“
    „Reden Sie nicht so über Dinge, die sie nicht verstehen. Mit Voodoo macht man keine Späße. Hier auf Haiti ist das eine todernste Angelegenheit.“
    Nun war er wütend. Er hatte die Zähne aufeinander gepresst. Abby konnte seinen Kiefer mahlen sehen. Mist, warum nur konnte sie nicht ihre vorlaute Klappe halten.

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