Traumschlange (German Edition)
unternehmen?“
„Ja, das würde ich sehr gern“, sagte er leise. „Ich möchte nicht, dass sie sich nur an die schlechten Seiten meiner Heimat erinnern, wenn Sie nach England zurückkehren. Haiti hat soviel Wunderbares zu bieten und einen kleinen Teil möchten ich Ihnen heute Abend zeigen.“
Abbys Sorgen zerflogen in einem Sturm der Gefühle.
„Wann soll ich Sie abholen?“, fragte Patrick.
„Wann können Sie hier sein?“
„In zehn Minuten. Reicht Ihnen...“
„Ich warte unten auf Sie.“
9. Blutrote Sonne
Abby war bereits nach fünf Minuten unten. Sie hatte nur kurz ihr Aussehen kontrolliert und stand nun vor dem schmiedeeisernen Tor und blickte erwartungsvoll die Rue Cadet Jérémie hinunter. Patrick kam später als angekündigt, aber er entschuldigte sich mit einem Lächeln und dem Hinweis auf den vielen Verkehr.
Er hatte sich umgezogen. Die Jeans war einer leichten Baumwollhose gewichen, zu der er ein farbenfrohes Hemd trug. Seine nackten Füße steckten in braunen Lederslippern. Die Sonnenbrille ins Haar geschoben, sah er wie der Inbegriff eines reichen Playboys aus, aber Abby fand, dass seine offene Art diesen Nachteil wieder wettmachte. Sie beugte sich zum Fahrzeugfenster hinein und hauchte einen Kuss auf seine Wange. Der süße Geschmack seines Rasierwassers brannte leicht auf ihren Lippen, als sie sich wieder zurückzog, um das Auto herumging und auf der Beifahrerseite einstieg.
„Wofür war das?“, fragte Patrick schmunzelnd.
„Weil Sie so nett waren und mir verziehen haben.“
„Mhm, ich denke, Sie dürfen ab jetzt öfters grob sein.“
Abby wollte zu einer erneuten Entschuldigung ansetzen, aber Patrick erriet ihre Gedanken und winkte ab.
„Haben Sie Lust, Haiti kennen zu lernen?“, fragte er stattdessen. „Ich meine damit, wie es wirklich ist. Unverfälscht.“
„Ja“, sagte Abby.
„Gut“, meinte Patrick zufrieden. „Dann geht es jetzt los.“
Sie verließen Port-au-Prince in Richtung Westen. Die untergehende, blutrote Sonne spiegelte sich im Meer und erschuf aus einen Ozean aus flüssigem Feuer, während die Ortschaften an dem schwarzen Mercedes vorbeiflogen. Légoâne, Grand Goâve, Petit Goâve, Miragoâne und viele Dörfer, deren Namen Abby gleich wieder vergaß. Bei Baradéres verließen sie die Hauptstraße und folgten einer schlecht ausgebauten Nebenstraße in das hügelige Gebirge. Die Straße wurde unwegsamer, aber der Mercedes fuhr kaum langsamer, obwohl es immer steiler hinaufging. Schließlich erreichten sie ein winziges Dorf, dessen verblassendes Ortsschild den Namen Palestine verriet.
Patrick lenkte den Wagen geschickt durch die engen Gassen und hielt schließlich vor einem nach allen Seiten offenen Gebäude, das Abby im ersten Moment an eine Scheune erinnerte. Ein verrostetes Wellblechdach ruhte auf roh behauenen Holzpfeilern. Die ganze Konstruktion sah nicht nur luftig, sondern auch baufällig aus. Abby fragte sich, was es hier wohl zu sehen gab. Der Motor wurde abgestellt und Patrick stieg aus, um ihr die Wagentür zu öffnen. Ihr leichtes Sommerkleid bauschte sich im Wind, der von den Hügeln herabstrich. Es war ein angenehmes Gefühl und Abby erschauerte wohlig.
Sie bemerkte die vielen Menschen, die auf das Gebäude zuhielten. Es waren fast ausnahmslos Männer. Viele in Jeans mit aus den Hosen hängenden Hemden und Baseballkappen auf dem Kopf. Die Passanten unterschieden sich durch ihre ärmliche Kleidung auffällig von ihnen beiden, aber Patrick schien das nicht zu stören. Er fasste nach Abbys Arm und zog sie mit sich.
Als sie näher kamen, entdeckte Abby überrascht, dass es sich bei dem Schuppen um eine Arena handelte. Der Boden war mit Sägespänen und Sand gefüllt. Darum zog sich ein Rondell aus gemauerten, ungestrichenen Backsteinen hinter das sich die Zuschauer knieten oder auf mitgebrachte Klappstühle setzten. Der Rauch unzähliger Zigaretten lag in der Luft, wurde aber durch den Wind in kleine Wolken zerfetzt, die aus dem Gebäude schwebten. Es roch nach Holz und etwas anderem. Abby brauchte einen Moment, bis sie den Geruch einordnen konnte. Rum. Nun sah sie auch die Flaschen, die von Hand zu Hand wanderten und aus denen die Männer in großen Schlucken tranken.
„Was machen wir hier?“, raunte Abby Patrick zu.
Er legte den Finger über die Lippen. „Warten Sie. Gleich geht es los.“
Der Satz war noch nicht beendet, als ein an der Decke der Baracke verborgener Scheinwerfer anging und die Arena in
Weitere Kostenlose Bücher