Traumschlange (German Edition)
„Unmöglich. Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Ihre Schwester wurde von Dr. Muncine behandelt. Einen besseren Arzt gibt es in ganz Haiti nicht.“ Er schüttelte energisch den Kopf. „Und selbst wenn ihm ein Fehler bei der Behandlung unterlaufen wäre, Muncine ist ein Ehrenmann. Er würde niemals Computerdaten löschen, um besser dazustehen.“
„Okay“, beruhigte ihn Abby. „Könnte jemand anderes ein Interesse daran haben, dass die Daten meiner Schwester verschwinden?“
„Ich wüsste nicht wer. Außerdem wozu das alles? Jeder am Krankenhaus kennt den Fall Ihrer Schwester. Es bringt nichts, die Daten zu löschen. Am Tag ihrer Einlieferung waren Krankenschwestern, Pflegepersonal und Ärzte anwesend. Mindestens ein Dutzend Menschen wissen von ihrem Tod. Es macht einfach keinen Sinn.“
„Lassen wir den Grund dafür einen Augenblick außen vor. Wie haben Sie die Sache entdeckt?“
„Eigentlich ist Corinne Savalle, die Verwaltungschefin, dahinter gekommen. Sie schwört Stein und Bein, sie habe die Daten selbst in den Computer eingegeben. Ich bat sie, die Sache zu überprüfen und Corinne fand die Datei Ihrer Schwester allerdings leer. Alle Angaben waren gelöscht worden.“
„Was ist mit den schriftlichen Unterlagen, nach denen Sie sehen wollten?“
Mitchards Gesichtsausdruck wurde noch betrübter. „Wir haben überall gesucht. Entweder wurde das Krankenblatt an einer unmöglichen Stelle abgelegt oder jemand hat dafür gesorgt, dass es nicht gefunden werden kann.“
„Sie meinen damit, jemand könnte die Unterlagen vernichtet haben.“
„Ja“, gab Mitchard zu. „Auch wenn ich mir das nicht vorstellen kann. Es bleibt die einzige Möglichkeit.“
„Mr. Mitchard wissen Sie, was das bedeutet?“
„Ja.“
„Etwas ist beim Tod meiner Schwester nicht mit rechten Dingen zugegangen und jetzt gibt sich jemand alle Mühe, die Spuren zu beseitigen.“
Mitchard schwieg und knetete seine Hände als läge ein Gummiball darin. Abby beobachtete sein Mienenspiel. Sie sah, wie er grübelte, wie er Gedanken abwog und wieder verwarf.
„Ich gebe zu, so sieht es aus“, meinte Mitchard schließlich.
„Was werden Sie in der Sache unternehmen?“, fragte Abby.
Seine dunklen Augen richteten sich auf sie. Ein sonderbarer Ausdruck lag darin, fast so, als versuchten sie Abby die hoffnungslose Wahrheit zu vermitteln.
„Ich kann nichts tun.“ Mitchard stand auf und ging zum Balkon hinüber. Den Rücken ihr zugewandt, sprach er weiter. „Sicherlich könnte man die Polizei einschalten, aber glauben Sie mir, es macht wenig Sinn. In Port-au-Prince werden täglich mehr Verbrechen verübt als in New York City, aber im Gegensatz zu Amerika gibt es hier nur ein Zehntel der nötigen Polizeibeamten, die nicht nur hoffnungslos überlastet, sondern auch noch durch und durch korrupt sind.“
„Soll das bedeuten, Sie wollen die Sache auf sich beruhen lassen?“ Abbys Stimme klang hart, als sie die Worte ausstieß. Zu hart. Mitchard begann heftig mit den Augen zu blinzeln
„So habe ich das nicht gemeint“, begann er sich zu rechtfertigen. „Ich wollte Ihnen nur die Aussichtlosigkeit eines solchen Versuchs verdeutlichen.“
„Meine Schwester ist in Ihrem Land an einer unbekannten Krankheit gestorben. Unterlagen, die Aufschluss über den Krankheitsverlauf und ihren Tod geben könnten, wurden vernichtet. Der Leichnam meiner Schwester wurde ohne meine Erlaubnis eingeäschert. Und nun...“
„Sie wurde eingeäschert?“, fragte Mitchard verblüfft. „Das wusste ich nicht.“
„Ich war heute beim Gesundheitsministerium, um die Rückführung des Leichnams nach England in die Wege zu leiten. Der dortige Beamte erklärte mir allerdings, es gäbe keinen Leichnam mehr. Meine Schwester wurde mit Rücksicht auf die Gesundheit der haitianischen Bevölkerung verbrannt.“
„Seltsam“, sagte Mitchard. Es klang als spräche er mit sich selbst. „Das ist sehr ungewöhnlich.“
„Wieso ist das ungewöhnlich?“, hakte Abby nach.
Der junge Arzt sah von seinen Händen auf. In seinen Augen entdeckte Abby, dass er beunruhigt war.
„Es widerspricht einfach den üblichen Gepflogenheiten. In Haiti messen die Menschen einem Begräbnis im herkömmlichen Sinn große Bedeutung zu.“
„Der Beamte erklärte mir, die Einäscherung wäre aufgrund der möglichen Seuchengefahr angeordnet worden“, sagte Abby.
„Ein dürftiger Grund. In Haiti sterben viele Menschen an Infektionskrankheiten, aber meinem Wissen nach, hat das
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