Traumschlange (German Edition)
anstelle der schon früher abgesägten Sporen, Schildkrötenkrallen und aus Metall geschliffene Sporen angelegt. Als die Vorbereitungen abgeschlossen waren, bewegten sich die Galleros noch einmal durch das Rondell. Der Schiedsrichter betrat nun die Arena, breitete seine Hände gebieterisch aus, bevor er laut zum Start pfiff. Die Männer setzten ihre Hähne ab und zogen sich zurück.
Zunächst belauerten sich die beiden Tiere mit wütend herausgestellter Brust, dann fielen sie urplötzlich übereinander her. Die Menge kreischte auf, während die Hähne in einem Wust aus wilden Bewegungen, Flügelschlagen und Federn verschwanden. Abby konnte kaum etwas erkennen. So plötzlich wie es begonnen hatte, war das Spektakel auch schon vorbei. Einer der Hähne verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Rücken. Sofort schritt der Schiedsrichter ein und schützte den Verlierer, indem er ihn aus der Reichweite des Angreifers zog. Der ‚juez de valla’ hob den Verlierer hoch, sodass ihn alle im Raum sehen konnten, dann verkündete er sein Urteil.
„Was sagt er?“, fragte Abby.
„Er sagt: ‚la canillera’, eine Fußverletzung. Zum Beweis zeigt er die Wunde, damit niemand nachher behaupten kann, er hätte den Kampf zu früh abgebrochen. Niemand hat Interesse an einem toten Tier, auch der Besitzer des Verlierers nicht, dazu sind die Hähne viel zu kostbar. Er wird froh sein, dass es keine ‚golpe de vaca’, ein tiefer tödlicher Stich, eine ‚bolsón’, eine tödliche Verwundung der Halsschlagader oder eine ‚el golpe de sangre’, eine Lungenverletzung ist. So muss er zwar die Schmach, den Spott und den Verlust seines Wetteinsatzes hinnehmen, aber sein Hahn kann bald wieder kämpfen oder für Nachwuchs sorgen.“
„Haben Sie auch gewettet?“, wollte Abby wissen, die beobachtet hatte, wie Patrick kurz vor dem Kampf dem Wettrichter ein Zeichen gegeben hatte.
„Ja, auf den Verlierer.“
„Dann hatten Sie heute kein Glück.“
Patrick lächelte Abby an. „Sie sind hier. Mehr Glück brauche ich nicht.“
Es gab nur einen Hahnenkampf, danach zerstreute sich die Menge schnell. Als Abby und Patrick zurück zum Auto gingen, sahen sie viele der Männer in kleinen Gruppen zusammenstehen und heftig den Ausgang des Kampfes diskutieren.
Abby ließ sich die in die weiche Polsterung des Mercedes sinken und dachte darüber nach, was sie gerade erlebt hatte. Die ganze Sache hatte eine Ursprünglichkeit, eine Natürlichkeit enthalten, die wie das Leben selbst war. Sieg oder Niederlage. Hoffnung und Enttäuschung. Alles lag dicht beisammen und konnte sich in Sekundenbruchteilen zum Positiven oder Negativen verändern. Das Rad der Fortuna drehte sich ständig, aber es ließ sich nicht beeinflussen.
In England hatte sie derartige Gefühle nie kennengelernt. Als Kind hatte sie einmal mit ihrem Vater das berühmte Pferderennen in Ascot besucht. Das eigentliche Rennen war dort nur Nebensache und Hintergrund für den Adel und die Reichen gewesen, die wie jedes Jahr die Gelegenheit nutzten, sich und ihren Wohlstand zu präsentieren. Die Frauen in eleganten Sommerkleidern und mit Hüten, die kein normaler Mensch auf der Straße tragen würde, wirkten wie Paradiesvögel, neben denen die Männer in ihren steifen Anzügen zu Statisten verblassten. Abby war staunend zwischen all den Menschen umhergegangen, aber sie hatte sich niemals wieder an einem Ort so deplaziert gefühlt, wie damals in Ascot. Kein Vergleich zur der ausgelassenen, aufgeheizten Stimmung in der Gallera.
„Das war interessant“, wandte sich Abby an Patrick, der den Motor startete.
„Hat es Ihnen gefallen?“
„Gefallen ist das falsche Wort. Ich stehe Tierkämpfen grundsätzlich abneigend entgegen, aber das Erlebnis in der Arena hat mich etwas über das Leben gelehrt.“
„Dann hat sich der Besuch gelohnt.“
„Was haben wir jetzt vor?“, fragte Abby und lehnte sich wohlig im Sitz zurück.
„Haben Sie schon einmal Merengue getanzt?“
„Was?“
„Lassen Sie sich überraschen“, schlug Patrick vor.
Sie verließen Palestine Richtung Süden und erreichten über eine schmale Bergstrasse die Hafenstadt Les Cayes. Patrick parkte den Mercedes direkt am Hafen, an einer Stelle, die das Parken hier deutlich verbot. Als Abby ihn darauf ansprach, ob er keine Sorge habe, abgeschleppt zu werden, grinste er nur.
Es war kühler geworden. Abby legte sich die mitgenommene Strickjacke um die Schulter und schlenderte mit Patrick durch die engen
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