Traumschlange (German Edition)
Ministerium trotzdem noch nie eine Einäscherung befohlen. Ihre Schwester war eine Ausländerin, die sich nur vorübergehend auf Haiti aufhielt. Ein verschlossener und versiegelter Zinksarg wäre vollkommen ausreichend gewesen, um der Sicherheit der öffentlichen Gesundheit Genüge zu tun. Außerdem hätte man erst telegrafisch Ihr Einverständnis für eine Einäscherung einholen müssen.“
Abby erhob sich langsam von ihrem Platz. Ihre Bewegung wirkte kontrolliert, aber innerlich zitterte sie. „Wissen Sie, was ich denke“, wandte sie sich an Mitchard. „Ich glaube, bei der Behandlung meiner Schwester wurde ein furchtbarer Fehler begangen. Dieser Fehler sollte nicht ans Tageslicht kommen...“
Mitchard hob den Kopf, sah Abby direkt an. Er setzte zu einer Erwiderung an, ließ es dann aber bleiben.
„... und der letzte Beweis, um zu klären, was mit meiner Schwester geschehen ist, wurde vernichtet – ihr Leichnam. Alle Hinweise und Unterlagen über Linda Summers sind verschwunden oder zerstört worden. Fast hat es den Anschein, als hätte es meine Schwester nie gegeben, als wäre sie nie in Haiti gewesen.“
Abby trat näher an Mitchard heran. Sie war kleiner als er und musste den Kopf in den Nacken legen, damit sie ihm in die Augen blicken konnte.
„Aber das werde ich nicht hinnehmen. Meine Schwester ist unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen und ich werde herausfinden, wer für ihren Tod verantwortlich ist.“
Mitchard war gegangen. Nicht wortlos, nein, er hatte Abby versichert, dass er sie verstehe und ihren Verdacht gerechtfertigt finde, sich aber nicht vorstellen könne, warum jemand ein Interesse daran haben könne, über den Tod ihrer Schwester den Mantel des Schweigens zu legen.
Abby saß allein in ihrem Hotelzimmer und grübelte über ihre nächsten Schritte nach. Was konnte sie noch tun? Wie konnte sie herausfinden, was mit ihrer Schwester seit der Einlieferung in das Hospital geschehen war?
Zunächst würde sie nochmals zum Krankenhaus fahren und versuchen, mit Dr. Muncine, dem behandelnden Arzt, in Verbindung zu treten. Er sollte in der Lage sein, sie über die Vorkommnisse aufzuklären. Zumindest konnte er ihr von Lindas letzten Stunden berichten und was er unternommen hatte, um sie am Leben zu erhalten.
Sollte das Treffen mit Muncine ihre Zweifel nicht ausräumen, gab es immer noch die Britische Botschaft in Port-au-Prince, die intervenieren konnte und ein Interesse daran haben sollte, unter welchen Umständen ihre Schwester ums Leben gekommen war. Vielleicht konnte die Botschaft Druck auf die haitianischen Behörden ausüben, damit Ermittlungen im Fall von Linda Summers aufgenommen werden.
Mehr kann ich nicht tun, dachte Abby.
Innerlich noch aufgewühlt durch die Ereignisse des Tages und Dr. Mitchards Eröffnung, dass Lindas Daten absichtlich gelöscht worden waren, leerte Abby ihr inzwischen lauwarmes Bier. Es war jetzt kurz vor sieben Uhr abends. Draußen vor dem Fenster nahm das Licht langsam ab. Abby spürte, wie sich ihr leerer Magen zusammenzog. Seit dem Frühstück hatte sie nichts mehr gegessen, und der Gedanke allein im Hotel zu speisen, weckte in ihr ein Gefühl der Verlorenheit.
Was war mit Patrick? Er hatte sich nicht mehr gemeldet. Bedeutete dies, dass sie ihn nun nicht mehr wiedersehen würde? Er war freundlich und hilfsbereit gewesen und sie hatte seine Freundlichkeit mit Sarkasmus und ätzenden Bemerkungen beantwortet.
Ich rufe ihn an, entschloss sich Abby. Wenn er mich abblitzen lässt – gut, aber ich werde mich wenigstens für meinen Auftritt heute Mittag entschuldigen.
Sie nahm ihre Handtasche vom Garderobenhaken und fischte die Karte heraus, die Patrick an den Blumenstrauß geheftet hatte. Kurz entschlossen hob sie den Hörer von der Station und tippte seine Nummer ein.
Das Telefon schien endlos läuten zu wollen, bis endlich jemand abhob.
„Ferre“, meldete sich seine dunkle Stimme. In Abbys Magen begann ein Schwarm Schmetterlinge herumzuflattern.
„Hallo, hier ist Abby Summers.“ War das ihre Stimme, die so nervös krächzte?
„Ja?“
„Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen. Mein Benehmen heute Nachmittag war unverzeihlich.“
„Unverzeihlich war es nicht. Es war nur unpassend.“
„Ja und es tut mir leid. Sie waren...“
„Genug“, lachte es aus dem Hörer. „Lassen Sie uns lieber überlegen, was wir mit diesem herrlich Abend anfangen sollen.“
Abbys Herz machte einen Sprung. „Sie möchten etwas mit mir
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