Traumschlange (German Edition)
jetzt allein sein.“
Mitchard setzte sich zu dem Priester. „Es ist nimmt kein Ende, nicht wahr?“
„Nein, mein Freund. Wir beide wissen, auf Haiti findet es niemals ein Ende.“
Abby stand an die alte Kirchmauer gelehnt und weinte, bis keine Tränen mehr kamen. Sie spürte weder die Hitze noch den Wind, der vom Meer heraufstrich.
Sie dachte an Linda. Linda, wie sie immer gelächelt hatte. Ein stolzer Schwan in einer Welt, die von Spatzen bevölkert war. Linda war tot, unwiederbringlich an die Ewigkeit verloren, zu der Sterbliche keinen Zutritt hatten. Und ihr selbst blieb nicht einmal ein Leichnam, den sie beerdigen konnte.
Was war das nur für ein Land, in dem man Leichen stahl und dafür andere Tote verbrannte, um die Trauernden zu täuschen?
Obwohl Abby durch Mitchards Bericht wie betäubt war, zuckten doch regelmäßig Fragen durch ihren Geist.
Warum?
Wofür das alles?
Wenn Linda durch ärztliches Versagen gestorben war, hätte sie es nie erfahren. Den Leichnam durfte man nur in einem versiegelten und feuerfesten Sarg aus Haiti ausführen und in England musste er ungeöffnet beerdigt werden. Gut, vielleicht hätte sie die Behörden überzeugen können, eine Autopsie an ihrer Schwester durchzuführen, um die tatsächliche Todesursache herauszufinden, aber irgendwie glaubte Abby nicht so recht daran.
War Linda ermordet worden?
Jean Mitchard schwor Stein und Bein, dass sie einen natürlichen Tod gestorben war. Es gab jede Menge Zeugen für ihr Ableben. Aber wo war ihr Leichnam? Warum hatte man ihn verschwinden lassen, wenn es nichts zu verbergen gab?
Abby fuhr sich mit der Hand durch das Haar. Alles war so verwirrend. Es machte keinen Sinn. Jede Frage führte nur zu weiteren Fragen und bis jetzt hatte sie noch nicht eine einzige Antwort gefunden.
Unerwartet legte sich eine schwere Hand auf ihre Schulter. Sie hatte nicht bemerkt, wie der Priester neben sie getreten war.
„Kommen Sie ins Haus. Ich mache uns einen Tee.“
Widerstandslos ließ sich Abby von ihm zurück in die Küche führen. Mitchard saß am Tisch und sah ihr entgegen, als sie den Raum betrat, aber er sagte nichts.
Maddox hantierte mit einem alten Wasserkessel herum, den er auffüllte und auf die Herdplatte stellte. Aus einem der Schränke nahm er eine Blechdose mit Teebeuteln, die er auf drei Tassen verteilte.
„Morgen fliege ich nach Hause“, sagte Abby leise. Niemand antwortete ihr. Was hätten sie auch sagen können.
Der Kessel begann zu kochen. Maddox schüttete das Wasser in die Tassen und stellte vor Abby und Mitchard jeweils eine hin. Die letzte Tasse behielt er in der Hand, als brauche er etwas, um sich daran festzuklammern.
„Geht zum Friedhof“, sagte er schließlich.
„Wie bitte?“, fragte Abby. Mitchard blickte von seinen Händen auf, die er die ganze Zeit geknetet hatte.
„Zum Friedhof“, wiederholte Maddox. „Geht zum Friedhof und sprecht mit den Totengräbern. Vielleicht können sie euch helfen. Wenn eine weiße Frau begraben wurde, wissen sie es.“
„Ich habe Ihnen doch erklärt, dass man mir gesagt hat, sie wäre...“ Mitten im Satz hielt Abby inne. Vielleicht war auch das eine Lüge gewesen, wie alles andere? Vielleicht hatte man ihr nur gesagt, dass Linda verbrannt worden war, damit sie ihre Leiche nie zu Gesicht bekam? Vielleicht war Linda tatsächlich beerdigt worden und ruhte nun in einem Grab, wartete darauf, dass sie kam, um sie heimzuführen?
„Es wird bestimmt keinen Stein mit ihrem Namen darauf geben“, sagte Abby.
„Nein, aber die Totengräber wissen alles. So war es schon immer in Haiti.“
13. Tonton
Sie hatten sich von Maddox verabschiedet, ohne dass sie Mama Koko noch getroffen hatten. Abby hatte dem Priester mehrfach gedankt, aber der hatte schlicht abgewunken. Nun saßen sie in Mitchards Renault und fuhren die Küstenstraße zurück nach Port-au-Prince.
„Sie haben mir nicht gesagt, dass Ihre Eltern von den tontons umgebracht wurden“, sagte Abby.
Maddox blickte kurz zu ihr hinüber, bevor er sich wieder dem Verkehr zuwandte. „Hat Maddox Ihnen davon erzählt?“
„Nein, er sprach von der Geschichte Haitis. Unweigerlich sind wir auch auf die Verbrechen zu sprechen gekommen, die hier begangen wurden.“
„Ich hätte Sie nicht mit dem Alten allein lassen sollen“, knurrte Mitchard. „Er redet zuviel.“
„Er ist ein netter Mann. Ein guter Mensch.“
„Ja, das ist er“, seufzte Jean Mitchard. „Ich verdanke ihm alles.“
„Wie kam es
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