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Traumschlange (German Edition)

Traumschlange (German Edition)

Titel: Traumschlange (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Wekwerth
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Pfund in drei arabische Vollblüter, die er im Oman bestellte. Auf dem Weg nach Europa ging das Transportschiff unter und mein Vater verlor die Hälfte seines Vermögens. Natürlich hatte er nicht daran gedacht, die Gäule zu versichern. Solche weltlichen Dinge hatten in seinem Bewusstsein keinen Platz. Da war nur Raum für großspurige Träume.“
    „Ich kenne solche Menschen“, meinte Mitchard. „Ihr Kopf schwebt immer über den Wolken und manchmal sehen sie den Boden nicht mehr. Wie ging es weiter?“
    „Nur wenig entmutigt, machte sich mein Vater daran, den Verlust wieder hereinzuholen, indem er eine heruntergewirtschaftete Porzellanmanufaktur aufkaufte und für Unsummen modernisierte. Er hoffte auf ein glänzendes Geschäft mit der Krone und plante den millionenfachen Absatz an Touristen, die sich von dem Aufdruck der Royals blenden lassen würden. Die Queen empfing ihn nicht einmal, als er mit seiner Mustersammlung in Windsor auftauchte. Zu diesem Zeitpunkt grübelte meine Mutter bereits darüber nach, ob sie sich von ihm scheiden lassen sollte. Zwar hätte es einen gesellschaftlichen Makel bedeutet, aber das war immer noch besser, als der soziale Knockout, der nun drohte.
    Ich denke, es war meine zwei Jahre ältere Schwester, die unserem Vater noch eine Gnadenfrist bescherte. Linda war alles, was ich nie sein würde. Hübsch, von ruhigem, ansprechendem Wesen, talentiert auf allen Gebieten, brachte sie stets nur die besten Noten nach Hause. Sie war der Augapfel meiner Mutter, ihr großer Traum. Ich hingegen war ungehobelt, unbegabt und in der Schule eine Niete. Mich mochten weder die Lehrer noch meine Mitschüler. Ich hatte keine Freunde, nur eine Schwester, mit der ich gern meinen Platz im Leben getauscht hätte.“
    Mitchard beobachtete Abby aus dem Augenwinkel. Er sah, wie die feinen Linien um ihre Mundwinkel härter wurden. Er konnte fühlen, dass nun der traurige Teil der Geschichte kommen würde.
    „Nach der Pleite mit der Porzellanmanufaktur versuchte sich mein Vater an der Börse und verlor den Rest seines früher so umfangreichen Vermögens und noch einen großen Teil des Geldes meiner Mutter dazu. Am 13. November 1977 beendete er seine Misserfolgsserie, in dem er sich eine Kugel in den Kopf schoss. Er hatte sein altes Jagdgewehr mit in den Wald genommen, den Lauf in den Mund gesteckt und mit einer Schnur den Abzug bestätigt. Ein Jagdaufseher fand ihn zwei Tage später.“
    Wieder seufzte Abby. Es klang, wie das Stöhnen eines alten Hundes. „Ich denke, meine Mutter hat ihm nie verziehen, dass er nicht bei einem Autounfall ums Leben kam. In der Rolle, der durch ein Unglück des Mannes beraubten Witwe hätte sie sich besser gefallen. So war sie nur die Frau eines geschäftlichen Versagers, der nicht einmal den Mut gehabt hatte, für seine Schulden geradezustehen. Nach dem Tod meines Vaters ging es uns nicht gut. Mutter konnte das Anwesen und den ausgedehnten Besitz in Leicester nicht halten und wir zogen in ein winziges Haus in einem Londoner Vorort. Meine Schwester Linda wurde zur letzten Hoffnung meiner Mutter. All ihre Sehnsüchte fokussierten sich nun auf sie. Ich war ein Nichts. Ein kleines ungehobeltes Nichts. Am liebsten hätte mich meine Mutter in den Keller gesperrt, aber das war natürlich undenkbar. Außerdem hätte meine Mutter den Keller gar nicht gefunden. Sie war nie dort. Ich hingegen spielte öfters im Keller, durchwühlte die alten Sachen und stellte mir vor, ich wäre an Lindas Stelle und all die Liebe, die sie bekam, wäre für mich. Der Traum endete, wenn ich verdreckt die Kellertür hinter mir schloss und meine Mutter mich als ‚Bauerntrampel’ oder ‚Zigeunerkind’ beschimpfte.“
    „Möchten Sie weiter erzählen?“, fragte Mitchard. Seine Hand streckte sich nach ihr aus, aber er wagte nicht, sie zu berühren. Abby nickte. Ihr Kinn war auf die Brust gesunken und ihre Finger öffneten und schlossen sich, so als suchte sie die richtigen Worte.
    „Es gibt nicht mehr viel zu sagen. Wir lebten unser kleines Leben, so gut wir konnten. Linda wurde mit dem letzten Rest unseres Geldes auf die besten Schulen geschickt. Für mich blieb nichts übrig, aber das war mir egal. Mein Weg war nie der Weg meiner Familie.“
    „Lebt Ihre Mutter noch?“
    „Nein, sie starb vor Jahren an Krebs.“
    „Und wie fühlen Sie sich jetzt, wo Sie tot ist?“
    In Abbys Augen schwammen Tränen, die sie nicht weinte. „Ich bin noch immer zornig.“
    Dann herrschte die Stille ausgesprochener

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