Traumschlange (German Edition)
dazu, dass Sie Waise wurden?“
Er zögerte, sprach dann aber doch. „Meine Eltern waren beide Lehrer. Meine Mutter eine Schwarze, mein Vater ein Franzose, den es nach Haiti verschlagen hatte. Eigentlich hatte er nur kurz auf Haiti Halt machen wollen, er befand sich auf einer Reise um die Welt, aber dann traf er meine Mutter und verliebte sich in sie. Er blieb in Port-au-Prince und wurde Lehrer an der gleichen Schule wie sie. Eine Zeitlang waren sie zu verliebt, als dass sie sich um die politischen Verhältnisse gekümmert hätten und dann war da noch ich, der die beiden auf Trab hielt. Aber schließlich konnten meine Eltern die Augen nicht mehr vor dem versperren, was um sie herum geschah. Menschen wurden verschleppt, gefoltert und getötet. Besonders mein Vater betrachtete das herrschende System mit Abscheu. Er war Franzose und glaubte, dieser Umstand mache ihn immun gegen Angriffe.“
„Was geschah?“
„Nun, es war unausweichlich. Mein Vater hatte sich mit anderen zusammengetan und eine Untergrundzeitschrift gegründet, in der den Menschen schonungslos mitgeteilt wurde, welche Verbrechen Duvalier beging.“ Mitchard schluckte schwer, als er sich erinnerte. „Unter ihnen war ein Mann, Julius Castor, Vorarbeiter auf einer Farm im Norden Haitis, der sie an die tonton macoute verriet. Alle wurden verhaftet. Ich habe meine Eltern nie wieder gesehen.“
„Wie alt waren Sie damals?“
„Elf Jahre alt. Ich konnte den Häschern entkommen. Mein Vater hatte kurz vor seiner Verhaftung erfahren, dass man ihn und meine Mutter abholen würde. Er versuchte erst gar nicht zu fliehen.“ Mitchard zuckte mit den Achseln. „Wohin hätte er auch gehen sollen? Aber er schickte mich zu einem Freund, der mich zu Pater Maddox brachte. Der Pater hat mir in dieser Nacht die Haare kurz geschoren, damit ich zwischen den anderen Kindern nicht auffiel. So wurde ich ein Waise unter Waisen. Die tontons kamen auf der Suche nach mir, auch nach St-Marc, aber sie fanden mich nicht. Ich war unsichtbar geworden und blieb es viele Jahre. Lange Zeit trug ich einen falschen Namen. Erst nachdem auch die Anhänger Duvaliers entmachtet waren, konnte ich es wieder wagen, Jean Mitchard zu sein.“
„Dante muss an Haiti gedacht haben, als er die Hölle beschrieb.“
„Was ist mit Ihnen? Erzählen Sie mir etwas über sich.“
„Was möchten Sie wissen?“
„Fangen Sie einfach an zu erzählen.“
„Ich glaube, ich kam schon zornig auf die Welt“, begann Abby leise. „Auf jeden Fall war dieser Zorn in mir, solange ich denken kann. Meine Mutter erzählte mir später, ich hätte ständig gebrüllt. Nicht wie andere Kleinkinder, wenn sie Hunger oder ein Bedürfnis nach Nähe haben. Nein, bei mir schien es Wut zu sein. Vielleicht war die Wut, eine verzweifelte Erinnerung an den Ort im Leib meiner Mutter, der mir Schutz und Wärme geboten hatte und den ich nun nie wieder betreten würde.
„Mein Vater liebte mich. Ich war seine Prinzessin. Als er starb, war ich die einzige sechsjährige Witwe auf diesem Planeten. Mit ihm ging all die Freude und fröhliche Ausgelassenheit, die eine glückliche Kindheit begleiten sollten. Für meine Mutter war ich stets nur ein Ärgernis gewesen. Jemand, den man notgedrungen in ein hübsches Kleid stecken und den Verwandten präsentieren musste, wenn irgendein Ereignis anstand und den man aber sofort wieder ignorierte, wenn der letzte Gast gegangen war.“
Abby hustete verlegen „Wahrscheinlich hat sich meine Mutter Zeit ihres Lebens gefragt, wie ich ihr es antun konnte, ihre Tochter zu sein. Aber auch sie wusste, man kriegt nie alles im Leben. Und sie hatte viel. Mehr als sie verdiente. Geboren als Tochter einer wohlhabenden Adelsfamilie, hatte meine Mutter nie auf etwas verzichten müssen. Im Alter von einundzwanzig hatte sie sich eine weitere Stufe in der gesellschaftlichen Schicht nach oben gearbeitet, indem sie meinen Vater, den Sohn des Earl of Wilshire heiratete. Allerdings war mein Vater so gar nicht wie der Rest seiner sozialen Schmarotzerschicht. Er hatte gern Umgang mit den Arbeitern, soff wie ein Loch, war großherzig und komplett verrückt.“ Abby lachte. „Außerdem war er ein Versager. Was immer er geschäftlich anpackte, ging schief. Mein Vater hält noch heute den britischen Rekord für die meisten Firmenpleiten in einem Jahr. Im Frühjahr 1977 eröffnete er einen Pferderennstall, mit dem er Aufmerksamkeit beim traditionellen Rennen in Ascot erregen wollte. Er investierte fast zwei Millionen
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