Traumschlange (German Edition)
Ordner enthalten Daten und Preise für Zuckerrohr. Ich bin zwar kein Fachmann, aber alles sieht ordnungsgemäß aus. Haben Sie etwas gefunden?“
„Nein“, gab Abby zu. Ihr Blick fiel auf die Sofortbildkamera, die noch immer auf dem Boden lag. Etwas störte Abby an dem Anblick, ohne dass sie es benennen konnte. Sie setzte sich und schlug die Beine im Schneidersitz unter. Die Kamera befand sich einen Meter vor ihr. Sie schien ihr etwas sagen zu wollen. Aber was?
Zwei Minuten lang starrte Abby die Kamera an, dann wusste sie die Antwort.
Da lag eine Sofortbildkamera, aber sie hatte kein einziges Foto entdecken können, dass mit ihr gemacht worden war. Linda war eine begeisterte Fotografin gewesen, allerdings hatte sie Digitalkameras stets mit dem Argument abgelehnt, da stecke kein Leben drin, sondern lieber Aufnahmen mit ihrer alten Sofortbildkamera gemacht. Immer und überall. Und nun stellte sich eine Frage: Wo waren die Fotos, die sie hier in Haiti geschossen hatte?
Ihr Fehlen war verdächtig. Abbys Blick wanderte zum Koffer. Sie untersuchte das Gepäckstück nach Fächern und Seitenklappen, aber da war nichts. Bei dem Koffer handelte sich um einen Samsonite mit Hartplastikschale. Es gab keine Innenfächer. Blieb nur noch der Karton mit den Büchern. Obwohl sie wusste, dass der Karton leer war, warf sie nochmals einen Blick hinein, bevor sie sich den Büchern zuwandte. Nacheinander klappte sie jedes einzelne auf und blätterte es durch. Im vorletzten Buch wurde sie schließlich fündig. Ein Foto fiel heraus, als sie das Buch umdrehte. Die weiße Rückseite lag nach oben. Abby nahm das Bild und drehte es um.
Die Fotografie zeigte Linda in strahlendem Sonnenschein vor dem blauen Hintergrund des Meeres. Sie trug ein einfaches schwarzes Leinenkleid, das ihre braungebrannten Schultern freiließ. Ausgebleichtes blondes Haar fiel darauf. Linda war nicht allein auf dem Bild. Sie küsste leidenschaftlich einen Mann mit schwarzem Haar und ebenmäßigen Gesichtszügen.
Es dauerte einen Moment, bevor Abby realisierte, wen Linda da küsste.
Der Mann war Patrick Ferre.
Patrick Ferre saß seinem Stiefvater gegenüber, der in einem Sessel wie ein König thronte. Er selbst hatte auf einem unbequemen Stuhl vor dem Schreibtisch Platz genommen und wartete darauf, dass der Alte endlich Zeit für ihn hatte.
Julius Castor war der Mann, den seine Mutter nach dem Selbstmord seines Vaters geheiratet hatte. Er war damals acht Jahre alt gewesen und konnte sich inzwischen nicht einmal mehr an das Gesicht seines Vaters erinnern. Es gab nur noch einen blassen, schwammigen Eindruck von ihm, wie er sich über sein Bett beugte, um ihm einen Kuss auf die Stirn zu geben. Mehr war nicht mehr vorhanden, aber Patrick forschte auch nicht in seiner Erinnerung. Während all der Jahre, war ihm sein Vater gleichgültig geworden. Castor war die Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit mit er sich abfinden und mit der er zurechtkommen musste.
Als seine Mutter vor zehn Jahren gestorben war, hatte er Haiti verlassen und in Amerika gelebt. Aber das riesige Land mit seinen mächtigen Städten hatte ihn verwirrt und ihm ein Gefühl der Verlorenheit vermittelt, das er nicht ertragen konnte. Also war er zurückgekehrt.
Obwohl ihm die Zuckerrohrplantage zur Hälfte gehörte, liefen alle Fäden in Castors Händen zusammen und er musste sich mit ihm gutstellen, wenn der Geldfluss nicht versiegen sollte. Sein Lebensstil war aufwendig. Neben dem teuren Mercedes, den er fuhr, unterhielt er noch eine verschwenderische Wohnung in Port-au-Prince, die jeden Monat ein kleines Vermögen verschlang. Hinzu kamen immense Summen, die er für Kleidung und Essen ausgab. Seine Abende in den Restaurants und den Bars der Hauptstadt, die er stets in Begleitung von hübschen, aber kostspieligen Frauen verbrachte, waren auch nicht gerade billig.
Patrick hasste die Abhängigkeit von seinem Stiefvater und die Verachtung mit der Castor auf ihn herabsah, aber er schaffte es nicht, sein bequemes Leben zu ändern. Das Dasein eines Farmers, der sich vor Sonnenaufgang aus dem Bett quälte, den Tag in sengender Sonne verbrachte und abends erst nach ein Einruch der Dunkelheit ins Bett kroch, war nichts für ihn.
Julius Castor hingegen wurde von einer Energie getrieben, die Patrick nicht verstand. Vielleicht lag es daran, dass er als einfacher Zuckerrohrschneider auf der Farm begonnen und sich später zum Vorarbeiter hochgearbeitet hatte. Als sein Vater verstarb, hatte er nur einen Haufen
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