Traumschlange (German Edition)
sich auch noch mit ihr die Nächte um die Ohren.
„Guten Morgen, Abby“, begrüßte er sie.
„Hallo, Jean. Du siehst nicht gut aus.“
„Mach dir keine Sorgen. Mir geht es gut.“
„Hast du Lust, mit mir zu frühstücken?“, fragte sie ihn.
„Geht leider nicht. Ich muss ins Krankenhaus. Eigentlich habe ich diese Woche frei, aber einer der diensthabenden Ärzte ist erkrankt und ich muss ihn vertreten.“
„Oh.“
„Ich habe mir Gedanken darüber gemacht, wie wir weiter vorgehen können. Wenn es ihr dir Recht ist, fahre ich dich zu einem Bekannten, der dir einiges zu der Lage sagen kann, in der sich deine Schwester befindet. Er ist Engländer. Ein ehemaliger BBC-Reporter und kennt sich mit der Materie sehr gut aus.“
„Du willst, dass er mich davon überzeugt, meine Suche aufzugeben.“
„Nein, aber du sollst wissen, auf was du dich da einlässt.“
„Also gut, ich spreche mit ihm.“
Die Fahrt endete vor einem weiß gestrichen Haus im Kolonialstil, in der Stadt Jacmel an der Südküste Haitis, nicht weit von Port-au-Prince entfernt. Jean stieg aus und bedeutete Abby, ihm zu folgen. Die Terrassentür schwang auf, als sie sich dem Haus näherten. Ein Mann trat in den Sonnenschein und begrüßte Jean herzlich, bevor er Abby höflich die Hand reichte.
„Michael Stanwill, aber alle nennen mich Mitch“, stellte er sich vor.
„Abby Summers.“
Für einen Mann war er nicht besonders groß und von schlanker Gestalt, was ihn noch zierlicher wirken ließ. Seine dunklen Haare lugten unter einem einfachen Strohhut hervor, den er zu einem eleganten Leinenanzug trug. Das Gesicht war hager. Bartstoppeln sprossen wild an seinem Kinn. Buschige Augenbrauen bewachten eine scharfe Hakennase, an derer linken Seite ein Muttermal saß, das aufgeklebt wirkte. Stanwill besaß ein ungewöhnliches, aber sympathisches Gesicht mit vor Vergnügen blitzenden Augen.
„Ich muss gleich wieder los“, erklärte Jean. Stanwill nickte und Jean wandte sich an Abby. „Um die Mittagszeit komme ich dich abholen, bis dahin musst du es mit Mitch aushalten. Lass dich nicht von seinem Charme einwickeln, er ist ein alter Halunke.“
Stanwill lachte. Er klopfte Jean auf die Schulter. „Verschwinde jetzt. Wir haben viel zu besprechen.“
Jean stieg in seinen Renault, winkte kurz, ließ den Motor an und war wenige Augenblicke später aus ihren Augen verschwunden.
„Gehen wir ins Haus“, lud Stanwill Abby ein.
Es gab keinen Flur. Abby stand sofort in einem Wohnraum auf dessen Holzdielen weiche Teppichen ausgelegt waren. Drinnen war es überraschend kühl. Ein Deckenventilator drehte müde seine Kreise. Das Innere des Hauses war eine Überraschung. Voll gestopft mit allen möglichen Reiseerinnerungen, die Stanwill während seiner Tätigkeit als Reporter angesammelt haben musste. Afrikanische Trommeln standen neben indischen Götterfiguren. Südamerikanische Webarbeiten hingen an den Wänden. Abby entdeckte einen russischen Samowar vor dem chinesische Reisschalen aus hauchdünnem Porzellan angerichtet waren. Überall hingen Fotografien. Die meisten zeigten Stanwill in allen Herren Ländern. Stanwill im Kriegsgebiet des Kosovo vor Häuserruinen. Stanwill in den Slums von Kalkutta. Stanwill in einem Katastrophengebiet in der Türkei. Auf manchen Abbildungen war er nicht zu entdecken. Diese Aufnahmen mussten von ihm selbst stammen. Es waren Bilder von außergewöhnlicher Klarheit und Eindringlichkeit. Bilder, die nach Gerechtigkeit zu schreien schienen. Bilder, die anklagten.
Abby sah ein kleines Kind mit aufgeblähtem Hungerbauch im Sand liegen, das Gesicht derartig mit schwarzen Fliegen bedeckt, dass man kaum die Augen ausmachen konnte. Auf einem anderen Bild ragte eine Hand aus dem Schutt eines Erdbebengebietes. Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika lächelte überlegen in die Kamera. Es war eine beeindruckende Sammlung von Momentaufnahmen dieser Welt.
„Gefallen Ihnen die Bilder?“
„Ja, sehr. Ich wusste nicht, dass Sie auch Fotograf sind.“
„Ein Hobby. Nichts weiter.“
„Sie sind ganz schön rumgekommen.“
„Während meiner Tätigkeit habe ich in den letzten zwanzig Jahren fast jedes Land dieser Erde gesehen.“
„Und nun leben Sie auf Haiti?“
„Nachdem ich meinen Job an den Nagel gehängt habe, bin ich hierher zurückgekehrt, um ein Buch zu schreiben.“
„Und haben Sie es geschrieben?“
„Noch nicht ganz“, lächelte Stanwill. „Es ist schwieriger als ich dachte.“
„Warum
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