Traumschlange (German Edition)
meine Schwester noch am Leben ist, werde ich sie finden.“
„Ihre Schwester ist nicht mehr am Leben. Sie befindet sich jetzt in einer anderen Welt. Sie können ihr nicht mehr helfen.“
„Wenn Linda nicht tot ist, dann ist sie meiner Definition nach, noch am Leben und ich werde einen Teufel tun und sie im Stich lassen.“
„Ich bitte Sie“, flehte Jean. „Lassen Sie die Angelegenheit auf sich beruhen. Sie bringen sich in größte Gefahr.“
„Jean?“
„Ja?“
„Warum haben Sie mir so selbstlos geholfen? Sie haben viel riskiert. Hätte man Sie auf dem Friedhof erwischt, wäre Ihre Reputation als Arzt dahin.“
„Ich weiß es nicht.“
Und er wusste es tatsächlich nicht. 1994 war er aus den USA zurück nach Haiti gekehrt, nachdem die Amerikaner die putschenden Generäle vertrieben und den rechtmäßigen, demokratisch gewählten Präsidenten Aristide wieder ins Amt eingesetzt hatten. Damals hatte er den Traum von einem neuen, einem besseren Haiti geträumt, aber er war in der Wirklichkeit ertrunken. Nun bot sich ihm die Möglichkeit zu helfen und er hatte es getan, ohne darüber nachzudenken.
„Ich danke Ihnen vielmals, Jean“, flüsterte Abby. Sie beugte sich vor und hauchte einen Kuss auf seine Wange.
„Was haben Sie vor?“
„Ich weiß es noch nicht. Im Augenblick bin ich hundemüde und will nur noch schlafen. Morgen denke ich darüber nach.“
„Darf ich dich Abby nennen?“, fragte Mitchard.
Ihr Lächeln war bezaubernd. „Ja, Jean.“
„Dann sehen wir uns morgen.“
Abby stieg aus dem Wagen aus. „Vielleicht solltest du mich das allein machen lassen.“
„Auf keinen Fall.“
„Du bist sehr stur.“
„Genau wie du.“
„Gute Nacht.“
18. Clairvius Narcisse
Im Licht des neuen Morgens wirkten die Geschehnisse der letzten Nacht unwirklich. Scheinbar einem wilden Traum entsprungen, verblasste ihre Kraft, aber sie verschwanden nicht. Zwar waren Abbys Zweifel neu erwacht, aber es waren die Zweifel eines Menschen, der sich mit aller Macht wehrte, die Wahrheit zu akzeptieren, wie sie nun einmal war.
Abby duschte lang und heiß. Sie rubbelte ihren Körper trocken, bis die Haut gerötet war. Es schien, als versuche sie, die Nähe des Todes aus ihren Poren zu reiben.
Sie schlüpfte in frische Unterwäsche, zog Jeans und eine weiße Bluse an. Das Haar ließ sie offen, damit es trocknen konnte. Während sie sich die Zähne putzte, dachte sie darüber nach, was sie unternehmen konnte, um Linda zu finden.
Ich habe nicht viele Möglichkeiten, gestand sie sich ein. Haiti war ein fremdes Land. Sie kannte seine Geografie nicht und hatte somit keine Ahnung, wo sie ihre Suche beginnen sollte. Vielleicht wusste Jean, was sie tun konnten.
Jean.
Sie spürte eine tiefe Zuneigung zu ihm. Es waren keine romantischen Gefühle. Nein, manchmal erschien es ihr, als sei Jean Mitchard ein lang vermisster Bruder, der wieder aufgetaucht war und der nun seinen rechtmäßigen Platz in ihrem Herzen forderte.
Selten hatte sie jemanden wie ihn kennengelernt. Jemand, der so selbstlos half, ohne nach Dank oder einer Belohnung zu fragen. Jean war ein besonderer Mensch und sie hoffte, dass sie ihn durch ihre Suche nicht in Gefahr brachte oder seine Karriere zerstörte. Aber Abby war sich auch bewusst, dass sie auf seine Hilfe angewiesen war. Mitchard war der Vermittler zwischen den Welten. Er konnte ihr die Realität auf dieser Insel zeigen, auch wenn Abby sie nicht immer verstand oder bereit war, diese Wirklichkeit zu akzeptieren.
Plötzlich fiel ihr ein, dass sie ihren Rückflug noch nicht storniert hatte. Es war höchste Zeit. Das Telefongespräch dauerte keine zwei Minuten und sie musste sich darüber keine Gedanken mehr machen.
Sie hatte den Hörer gerade auf die Gabel gelegt, als das Telefon klingelte. Es war Jean. Er wartete unten in der Lobby auf sie. Dass er so früh erschien, überraschte Abby. Es war kurz vor acht Uhr morgens. Dieser Mann kam anscheinend mit noch weniger Schlaf aus als sie selbst.
Abby kämmte ihre Haare, die noch immer feucht waren, doch sie wollte Mitchard nicht warten lassen. Sie griff nach ihrer Handtasche und ging zur Rezeption hinunter.
Jean erwartete sie am Ende der Treppe. Er sah nicht gut aus. Dunkle Ringe zeichneten sich unter seinen Augen ab. Seine Wangen waren eingefallen. Abby fühlte, wie sich ihr schlechtes Gewissen meldete. Jean hatte einen anstrengenden Job im Krankenhaus. Wahrscheinlich hatte er die ganze Woche hart gearbeitet und nun schlug er
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