Traumschlange (German Edition)
anheuern wollte, an wen würde ich mich wenden?“
„Du machst Scherze“, ächzte Bonaparte.
„Sehe ich so aus, als wäre mir zum Spaßen zumute“, erwiderte Mitchard mit zusammengebissenen Zähnen.
Der kleine König fuhr sich erneut über den Schädel, es wirkte als versuche er, den kümmerlichen Rest sein Haar zu bündeln.
„Ich würde mit Marve reden“, sagte er schließlich.
„Wer ist das?“
„Du kennst Marve nicht?“
„Nein.“
„Dann solltest du besser die Finger von der Sache lassen. Er ist ein sehr gefährlicher Mann.“
„Erzähl mir etwas über ihn.“
Bonaparte trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Die Angst vor Marve war ihm regelrecht ins Gesicht genagelt.
„Marve ist ein Weißer, ein Arzt wie du. Früher hat er sein Geld mit illegalen Abtreibungen verdient, aber ihm wurde die Zulassung entzogen. Das alles geschah zu einer Zeit, als du noch in Amerika studiert hast. Heute ist er ein Buscones , ein Schlepper. Der billige Arbeitskräfte in Lastwägen pfercht und über die Grenze in die Dominkanische Republik schmuggelt. Es heißt, er arbeitet mit den macoutes zusammen und bezahle sie dafür, dass sie ihn durch ihr Gebiet fahren lassen.“
„Klingt nach einem unangenehmen Menschen.“
„Der Mann ist eine Natter.“
„Wo finde ich ihn?“
„An einem Ort, an den du nicht gehen solltest.“
„Wo?“
„Cité Soleil. In der stinkendsten Jauchegrube der Welt.“
Mitchard zuckte kurz, hatte sich aber gleich darauf wieder im Griff.
„Wo ist das?“, fragte Abby.
„Direkt nebenan“, erklärte Jean. „Cité Soleil ist der größte Slum in der Karibik. Dort leben über eine Viertelmillion Menschen zusammengedrängt auf vier Quadratkilometern.“
„Warst du schon einmal dort?“
„In der Sonnenstadt?“ Mitchard war anzusehen, dass er allein die Vorstellung für abwegig hielt, jemand könne freiwillig diese Kloake betreten.
„Du lügst mich doch nicht an“, wandte er sich wieder an Bonaparte. „Wenn dieser Marve ein Buscones ist, müsste er genug Geld besitzen, um sich ein Haus in Pétonville zu leisten.“
Der kleine König grinste. „Könnte er auch. Aber er hat Schiss. Nicht alle seiner Patienten hatten das Glück die Eingriffe zu überleben. Marve ist ein Metzger, ein Pfuscher. Er hat sich während seiner Tätigkeit als Arzt viele Feinde gemacht und fühlt sich nur noch in der Sonnenstadt sicher. Die Menschen dort hatten nie die Mittel, um seine Dienste in Anspruch zu nehmen. Heute beherrscht er mit seinem Geld fast den ganzen Slum. 250 000 arme, halbverhungerte Menschen sind seine Armee und schützen ihn. Nicht einmal auf dem Höhepunkt ihrer Macht hatten die macoutes einen derartigen Einfluss.“
„Wo finde ich Marve?“
„Ganz einfach, folge dem Geruch der Angst. Nein, ich scherze. Suche einfach die größte Hütte und du hast ihn. Außerdem kann dir dort jeder den Weg zeigen. Alle kennen Marve.“
„Danke, Bonaparte. Abby, lass uns gehen.“
„Einen Moment noch“, sagte der kleine König. „Da du sowieso bald tot sein wirst, könntest du mir eigentlich deine Turnschuhe geben.“ Er zeigte auf Mitchards abgetragene Nikes.
„Leck mich!“
Bonapartes Lachen folgte ihnen wie ein Schatten durch die Gänge, als sie Fort Dimanche verließen.
Im Sonnenschein fühlte sich Abby gleich wohler. Ihre Brust hob und senkte sich. Nach dem unerträglichen Gestank im Gefängnis versuchte, so viel frische Luft wie möglich in ihre Lungen zu pumpen. Mitchard reichte ihr sein Taschentuch.
„Wisch dir das Gesicht ab.“
„Bei Gott“, stöhnte Abby. „Wenn es eine Hölle gibt, dann ist es Fort Dimanche.“
„Du hast Gonaïves noch nicht gesehen. Dort leben ‚die Menschen des Salzes’“. Ohne Schuhe, die Füße verätzt von der Lauge, schuften die Menschen in den Salzbecken des Meeres. Die Kinder spielen vor trostlosen Wellblechhütten. Das Salz löst ihnen das Fleisch von den Knochen. Dagegen ist Fort Dimanche wirklich das Nirwana.“
„Und Cité Soleil?“
„Abby, wir können da nicht einfach so reinmarschieren und nach Marve fragen. Wir brauchen einen Plan. Und du als Weiße kannst nicht mitkommen, das ist ausgeschlossen.“
„Also, was machen wir?“
„Lass uns etwas Essen gehen. Mir knurrt der Magen. Während wir essen, können wir uns überlegen, wie wir weiter vorgehen.“
Abby wollte widersprechen, doch dann wurde ihr bewusst, dass Jean wahrscheinlich den ganzen Tag über noch keine Zeit gefunden hatte, etwas zu sich zu
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