Traumschlange (German Edition)
ein Fluch.
„Ich muss gehen“, sagte sie auf Französisch mit hartem Akzent. „Das Flugzeug meines Mannes landet in einer Stunde.“
Das Wort Flugzeug drang bis in Patricks Gehirn vor und ihm fiel ein, dass er eigentlich vorgehabt hatte, Abby Summers Abreise zu beobachten. Er warf einen Blick auf den Wecker, der neben dem Bett stand. Schon nach Zwölf. Abby Summers war längst abgeflogen. Nun gut, Hauptsache sie hatte Haiti verlassen.
19. Nirwana
Abby saß auf dem Beifahrersitz und erzählte Jean, was ihr Mitch Stanwill erklärt hatte. Das Meiste wusste Mitchard bereits aus eigenen Gesprächen mit dem Reporter. Nur die Sache mit den Gegengiften war neu für ihn.
„Atropin, sagst du ? »
„Ja. Und Skopolamin.“
„Atropin könnte ich besorgen. Wir haben einen kleinen Vorrat davon im Krankenhaus. Aber Skopolamin nicht, das ist uns schon vor Monaten ausgegangen.“
„Dann müssen wir jetzt nur noch meine Schwester finden, um es ihr zu verabreichen.“
„Das klingt nicht gerade hoffnungsfroh.“
„Mitch Stanwill hat mir jede Illusion genommen. Er meint, es wäre unmöglich, Linda zu finden. Sie würde wahrscheinlich im Norden, im Gebiet der tontons gefangen gehalten.“
„Dann hat er Recht. Dorthin können wir nicht gehen.“
„Aber wir müssen es doch versuchen.“
„Die tonton macoutes verstecken sich im Gebiet von Trou du Nord. Sie kontrollieren es. Niemand gelangt dorthin, ohne dass sie davon erfahren.“
„Ferre kommt aus Trou du Nord.“
„Weißt du, was „Dechkoukaj“ bedeutet?“
„Nein.“
„Es heißt sinngemäß übersetzt soviel wie „mit der Wurzel herausreißen“ und beschreibt Lynchjustiz. Ich selbst habe gesehen, wie der wütende Mob nach Vertreibung der macoutes , nach deren alten Anhängern suchte. Wen sie fanden, wurde zu Tode gesteinigt oder mit Macheten zerstückelt. Manchen von ihnen hängte man mit Benzin gefüllte Autoreifen um den Hals und zündete sie an. Andere wurden an eine Kuh gebunden, die man so lange durch die Stadt trieb, bis dem Gefesselten buchstäblich die Haut vom Leib gescheuert war. Die tontons sind sehr vorsichtig geworden. Sie verbergen sich, aus Angst vor der Rache der Menschen, die sie früher gequält haben.“
„Aber...“, wollte Abby widersprechen.
„Kein aber! Diesmal nicht. Diesmal hörst du auf mich. Die Leute von denen wir hier reden, sind bis an die Zähne bewaffnet. Sie bewachen alle Zufahrtsstraßen. Abby, die haben Maschinenpistolen und zögern nicht, sie auch zu benutzen.“
„Was können wir sonst tun?“
„Wir sprechen mit jemandem.“
„Noch ein Reporter?“
„Nein.“
„Wer ist es dann?“
„Der König des Nirwana.“
„Zieh das an“, verlangte Jean. Er reichte Abby eine dunkelblaue Baseballmütze und eine weite Windjacke. „Damit fällst du nicht so auf.“
Das ‚Nirwana’ war Fort Dimanche, ein Klotz aus Beton und rostendem Eisen. Ein ehemaliges Gefängnis, das sein Namen noch aus den Zeiten Duvaliers hatte. Wer hierher verschleppt wurde, ging ins Nirwana ein.
Abby folgte Jean durch den Morast. Der Regen der letzten Nacht hatte den Boden in einem schlammigen Sumpf verwandelt. Halbnackte Kinder spielten darin. Als sie Abby entdeckten, kamen sie schreiend angerannt. Bettelnde Hände streckten sich ihr entgegen. Jean verscheuchte die Kinder, aber sie kamen immer wieder, wie ein Schwarm Fliegen, der sich nicht vom Aas vertreiben ließ.
Sie erreichten den Eingang zu Fort Dimanche. Ein Loch im Beton. Abby und Jean mussten sich bücken, um das Fort zu betreten. Drinnen erwartete sie ein Jugendlicher in zerlumpter Jeans und einem T-Shirt mit Heavy Metall Aufdruck.
„Was wollt ihr hier?“, fragte er mit zusammengekniffenen Augen.
„Wir möchten mit ‚dem kleinen König’ sprechen?“
„Erwartet er Euch?“ Das Misstrauen war ihm anzusehen.
„Sag ihm einfach, Jean ist hier.“
Der Junge verschwand in einem der zahllosen Flure.
Die Luft war heiß und feucht. Über allem lag der Gestank von Urin und Schweiß. Von den kahlen Mauern sickerte kondensierende Feuchtigkeit. Überall erklangen Stimmen. Sie schienen aus dem Nichts zu kommen. Eiserne Türen fielen ins Schloss.
Als der Junge wieder erschien, konnte Abby kaum noch atmen. Er führte sie durch mehrere Gänge und blieb vor einer alten Gefängniszelle stehen. Mit der Hand bedeutete er ihnen einzutreten.
Die Zelle war nur viereinhalb Meter lang und kaum mehr als zwei Meter breit. An den Wänden hingen schimmelnde
Weitere Kostenlose Bücher