Traumschlange (German Edition)
Lotterielose. Zertretene Kakerlaken bedeckten den Boden wie Popcorn in einem Kino. Ein Mann erhob sich von einer faulenden Matratze und trat ins Licht des Einganges. Er war ungefähr in Jeans Alter, denn er hatte ihr erzählt, er und der König des Nirwana wären zusammen im Waisenhaus von Pater Maddox aufgewachsen. Der kleine König sah aus wie ein Greis. Sein Gesicht bestand hauptsächlich aus schlaffen Wangen und einem fast zahnlosen Mund. Haare waren nur noch büschelweise vorhanden, ansonsten war sein Schädel kahl. Er hatte mächtige Ohren, die weit abstanden und kleine schielende Augen. Insgesamt wirkte er wie ein Kind, das über Nacht zu einem alten Mann geworden war.
„Willkommen im Jenseits“, begrüßte er sie.
„Hallo, Napoleon.“
„Gut siehst du aus, Jean. Wirklich gut.“ Eine dürre, faltige Hand streckte sich vor und berührte Mitchards Hemd anerkennend. „Deine Geschäfte laufen gut, nicht wahr?“
„Du weißt, dass ich Arzt bin.“
„Auch Krankheit ist ein Geschäft. Es gibt Angebot und Nachfrage. In Haiti ist die Nachfrage sehr groß und du führst ein schönes Leben.“
„Wenn du es sagst“, lächelte Jean.
„Ich sehe, du hast mir etwas mitgebracht.“ Er wandte sich an Abby, lächelte sie mit dem Loch in seinem Gesicht an, das einmal sein Mund gewesen sein mochte. „Wir können etwas Frischfleisch gebrauchen.“
Er nickte mit dem Kopf in Richtung Flur. Zwei Mädchen, nicht älter als vierzehn Jahre, starrten neugierig hinein. Sie waren grell geschminkt.
Wie Nutten, dachte Abby.
„Mein Name ist Abby Summers“, stellte sie sich mit kalter Stimme vor.
„Und ich bin Napoleon Bonaparte. Lachen Sie bloß nicht. Dieser Name stand auf einem Stück Karton, den man mir als Säugling um den Hals gehängt hat, bevor man mich vor Pater Maddox’ Waisenhaus auf die Stufen legte. Wahrscheinlich kam sich diese Schlampe von einer Mutter auch noch witzig dabei vor.“
„Das tut mir leid“, sagte Abby.
„Mir nicht. Mir gefällt der Name. Er deutet auf eine rühmliche Verwandtschaft hin.“
„Wie ich sehe, hast du dich neu eingerichtet“, mischte sich Jean in das Gespräch ein. „Letztes Mal hast du noch auf dem Steinboden geschlafen.“
„Sie müssen wissen, Madame, zu Zeiten Duvaliers kerkerte man in so eine Zelle bis zu siebzehn Gefangene. Die Menschen mussten abwechselnd schlafen und fast zwanzig Stunden am Tag stehen. Unsere Schweine graben auf der Suche nach Futter im Hof. Sie wissen, wo sie was zu fressen finden. Unter der Erde liegen Tausende von Toten. Sie essen uns und wir essen sie.“
„Übst du noch deinen Beruf aus?“, fragte Jean und fuhr fort. „Napoleon ist Bettler. Halt, was sage ich. Er ist der König der Bettler. Hast du noch deinen bevorzugten Platz an der Kathedrale von Notre Dame?“
„Aber natürlich. Niemand würde es wagen, mir den streitig zu machen.“
„Er hockt dort den ganzen Tag und belästigt Touristen. Für zwei Dollar darf man sein verkrüppeltes Bein sehen“, erklärte Jean. Er legte dem kleinen König eine Hand auf die Schulter. „Es muss wehgetan haben, als du dir das Knie mit einem Hammer zerschmettert hast.“
„Hat es“, meinte Napoleon lakonisch.
„Das Bein wäre fast amputiert worden.“
„Ein Risiko des freien Unternehmertums. Aber du hast mich ja gerettet. Oder zumindest mein Bein.“
„Vergiss das bitte nicht.“
Napoleon Bonaparte fuhr sich mit der Hand über seinen kahlen Schädel. „Du bist also hier, um eine alte Schuld einzufordern?“
„Ja, wir brauchen deine Hilfe. Du bist Augen und Ohren dieser Stadt. Nichts geschieht hier, ohne dass du davon erfährst.“
„Ihr wollt also Insiderinformationen, die ich von Börsenmaklern aufschnappe.“ Er lachte meckernd.
„Geben Sie mir das Foto“, verlangte Jean von Abby. Sie reichte es ihm. Mitchard hielt es dem kleinen König vor die Nase.
„Hast du diese Frau schon einmal gesehen?“
Bonaparte wurde ernst. „Nein, aber den Kerl, den sie abknutscht, kenne ich. Patrick Ferre. Sein Stiefvater ist Julius Castor, ein Drecksack ohne gleichen.“
„Du bist dir sicher mit der Frau?“
„Ja, so eine Schönheit kann man nicht übersehen. Ihre Schwester, Madame?“
„Woher wissen Sie das?“, fragte Abby.
„Oh, eine gewisse Ähnlichkeit ist vorhanden, auch wenn ich sagen muss, die Lady auf dem Foto…“ Er tippte mit dem Finger dagegen. „…ist mehr mein Typ.“
„Was jetzt?“, wollte Abby wissen.
Jean dachte einen Moment nach. „Wenn ich einen bokor
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