Traumschlange
Herumschnüffelns beschuldigen zu können, und es war ohnehin besser, man bemerkte ihre Anwesenheit erst, wenn sie den Zeitpunkt als geeignet betrachtete. Sie fröstelte, als sie dem weiteren Verlauf des Trampelpfads folgte, denn der kühle Luftzug verwandelte sich in einen kalten Wind. Sie schaute sich um, damit sie sicher sein konnte, daß der Verrückte noch hinter ihr war, und da sah sie ihn zum Felssims hinaufhasten, mit den Armen fuchteln. Bestürzt blieb Schlange stehen. Ihr erster Gedanke war, daß er wieder einmal beschlossen hatte zu sterben. Und in diesem Augenblick rannte ihm Melissa hinterdrein.
»North!« schrie er, bevor Melissa nach seinen Knien sprang und sie umklammerte, ihn mit der Schulter aus dem Gleichgewicht warf und hinstreckte. Schlange lief hinzu, während Melissa mit ihm rang, um zu verhindern, daß er sich aufraffte und losriß. Sein Schrei hallte endlos wider, zurückgeworfen von der Wandung und den zahlreichen herabgeschmolzenen Beulen und inwendigen Unebenheiten der Kuppel. Melissa bot in ihrem Kampf mit dem Verrückten alle Kraft auf, um seine Beine geschlungen und halb in seine weite Wüstenrobe verwickelt, und zugleich versuchte sie ihr Messer zu ziehen – auf jeden Fall schaffte sie es irgendwie, ihn festzuhalten. Schlange löste Melissa von ihm, so behutsam es sich machen ließ. Der Verrückte kroch herum, schnappte nach Luft, um noch einmal zu schreien, aber Schlange zog ihr Messer und setzte ihm die Klinge an die Kehle. Ihre andere Hand war zu einer Faust geballt. Langsam lockerte sie die Faust, während sie ihre Wut bezähmte.
»Warum hast du das getan? Wir hatten eine Vereinbarung getroffen.«
»North...« Er flüsterte bloß. »North wird auf mich böse sein. Aber wenn ich ihm neue Leute bringe...« Seine Stimme verstummte.
Schlange sah Melissa an, und Melissa senkte den Blick.
»Ich habe nicht versprochen, dir nicht zu folgen«, sagte sie. »Darauf habe ich genau geachtet. Ich weiß, ich war unehrlich, aber...« Sie hob den Kopf und erwiderte Schlanges Blick. »Du weißt über Menschen manches nicht. Du traust ihnen zu sehr. Es gibt auch Dinge, die ich nicht weiß, das ist mir klar, aber das sind wieder andere.«
»Na schön«, sagte Schlange. »Du hast recht, ich habe ihm zuviel Vertrauen geschenkt. Danke dafür, daß du ihn aufgehalten hast.«
Melissa zuckte die Achseln. »Genutzt hat es nichts. Jetzt weiß man, daß wir hier sind.«
Der Verrückte begann zu kichern, wälzte sich hin und her, seine Arme um den Leib geschlungen. »Jetzt wird mich North wieder mögen.«
»Ach, halt dein Maul«, sagte Schlange. Sie schob ihr Messer zurück in die Scheide. »Melissa, du mußt aus der Kuppel verschwinden, ehe irgend jemand auftaucht.«
»Bitte, komm mit«, sagte Melissa. »Hier hat nichts einen Sinn.«
»Jemand muß den Heilern von dieser Kuppel berichten.«
»Ich schere mich nicht um die Heiler! Nur um dich! Wie könnte ich denn zu ihnen gehen und ihnen erzählen, daß ich dich von einem Verrückten habe umbringen lassen?!«
»Melissa, bitte, wir haben keine Zeit für Diskussionen.«
Melissa wickelte den Zipfel ihres Kopftuchs um einen Finger, zog es herab, so daß das Tuch ihre Narbe überschattete. Schlange hatte wieder ihre gewöhnliche Kleidung angelegt, als sie die Wüste verließen, aber Melissa nicht.
»Du solltest mich bei dir behalten«, sagte sie. Mit hängenden Schultern machte sie kehrt und wollte sich über den Trampelpfad abwärts entfernen.
»Dein Wunsch soll in Erfüllung gehen, Kleines.« Die Stimme war höflich und besaß einen tiefen Klang.
Im ersten Moment dachte Schlange, der Verrückte hätte urplötzlich in normalem Ton zu sprechen begonnen, aber er wand sich noch immer neben ihr auf dem kahlen Felsen wie ein Wurm, und auf dem Trampelpfad stand nun eine vierte Person. Melissa blieb wie angewurzelt stehen, starrte zu ihr empor und wich dann zurück.
»North!« kreischte der Verrückte. »North, ich bringe neue Leute! Und ich habe dich gewarnt, ich habe verhindert, daß sie sich anschleichen. Hast du mich gehört?«
»Ich habe dich gehört«, bestätigte North. »Und ich habe mich gewundert, warum du mir ungehorsam warst und zurückgekommen bist.«
»Ich dachte, du würdest dich freuen, wenn ich dir diese Leute bringe.«
»Das ist alles?«
»Ja.«
»Bestimmt?«
Die Höflichkeit des Tonfalls blieb, aber dahinter verbarg sich ein großes Vergnügen am spöttischen Charakter dieser Höflichkeit, und das Lächeln des Mannes war eher
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