Traumschlange
Wunde.
»Tötet sie«, sagte der Verrückte. Aus Erregung sprach er sehr schnell. »Tötet sie und verwendet ihren Kadaver als Warnzeichen.«
Schlanges Herz pumpte warmes Blut aus ihrer Schulter. Sie torkelte, stützte sich ab, sank auf die Knie. Das Zusammensacken versetzte ihrem Rückgrat einen heftigen Stoß, und ihre Wirbel bebten aus Schmerz, dem sie sich entziehen wollte, aber es nicht konnte, so wie der arme kleine Gras sich vor nicht allzu langer Zeit mit gebrochener Wirbelsäule wand.
Vor ihr stand Melissa, das entstellte Gesicht und ihr rotes Haar unbedeckt, blind von Tränen, während sie Schlange unbeholfen mit geflüsterten Worten zu trösten versuchte, wie sie es bei einem Pferd tun mochte, und schlang ihr Kopftuch um die Verletzung. Soviel Blut durch ein so kleines Geschoß, dachte Schlange. Sie fiel in Ohnmacht.
Kälte war es, die Schlanges Besinnung allmählich zurückbrachte. Noch während der Rückkehr ihres Bewußtseins überraschte es Schlange, daß sie überhaupt noch einmal aufwachte. Der Haß in Norths Stimme, als er ihren Beruf feststellte, hatte ihr jede Hoffnung geraubt. Ihre Schulter schmerzte stark, aber nicht auf die stechende Weise, die klare Gedanken erschwert. Sie spannte die Muskeln ihrer rechten Hand. Sie war schwach, aber sie bewegte sich. Sie raffte sich auf, zitterte, blinzelte, um ihr verwaschenes Blickfeld zu klären.
»Melissa?« flüsterte sie.
In der Nähe lachte North auf. »Da sie noch keine Heilerin ist, durfte sie ungeschoren bleiben.«
Kalte Luft umfloß Schlange. Sie schüttelte den Kopf und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. Unvermittelt konnte sie wieder alles deutlich erkennen. Die Anstrengung des Aufsetzens verursachte ihr einen Schweißausbruch, und dadurch spürte sie den Luftzug mit eisiger Kälte. North saß vor ihr und grinste; seine Leute standen zu seinen Seiten und bildeten um Schlange einen Kreis. Das Blut auf ihrem Kleid, außer unmittelbar über der Verletzung, war braun; sie mußte für geraume Zeit bewußtlos gewesen sein.
»Wo ist sie?«
»Es geht ihr gut«, sagte North. »Sie darf bei uns bleiben. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, sie wird hier glücklich sein.«
»Sie wollte nie hierher. Das ist nicht die Art von Glück, die sie möchte. Laß sie gehen.«
»Wie ich schon sagte, ich habe nichts gegen sie.«
»Und was hast du gegen Heiler?«
North betrachtete sie ausgedehnt mit ausdruckslosem Blick. »Man sollte meinen, das sei offensichtlich.«
»Es tut mir leid«, sagte Schlange. »Wahrscheinlich könnten wir dir zu der Fähigkeit verhelfen, Melanin zu bilden, aber wir sind keine Zauberer.«
Die kühle Luft strömte aus einer Höhle im Hintergrund, sie umfloß Schlange und erzeugte auf ihren Armen eine Gänsehaut. Ihre Stiefel waren fort; der kalte Steinboden schien ihren Fußsohlen unaufhörlich Körperwärme zu entziehen. Aber die Kälte betäubte auch den Schmerz in ihrer Schulter. Doch plötzlich begann sie haltlos zu zittern, und der Schmerz verstärkte sich beträchtlich. Sie keuchte und schloß für einen Moment die Augen, saß in ihrer inneren Dunkelheit, atmete tief und verdrängte die bewußte Wahrnehmung der Wunde. Sie blutete wieder, auf ihrem Rükken, wo sie sich schwer erreichen ließ. Schlange hoffte, daß Melissa sich irgendwo befand, wo es wärmer war, und sie fragte sich, wo die Traumschlangen untergebracht sein mochten, weil die Tiere viel Wärme zum Leben benötigten. Schlange öffnete die Augen.
»Und was deine Größe angeht...« begann sie.
North stieß ein bitteres Lachen aus. »Was ich auch je über Heiler geäußert habe
– nie habe ich behauptet, sie wären unfähig zur Kaltschnäuzigkeit.«
»Was?« fragte Schlange benommen. Vom Blutverlust war ihr schwindlig, während sie North antwortete. »Zu einem früheren Zeitpunkt hätten wir dir vielleicht helfen können. Du mußt gewachsen sein, bevor man dich zu einem Heiler...«
Norths blasses Gesicht verfärbte sich vor Wut dunkelrot. »Schweig!« Er sprang auf die Füße und zerrte Schlange empor. Sie preßte den rechten Arm an ihre Seite. »Glaubst du, ich habe Lust, mir so etwas anzuhören? Glaubst du, ich möchte mir erzählen lassen, daß ich normal geworden sein könnte?!« Er schleppte sie mit sich hinüber zur Höhle. Sie stolperte, aber er riß sie wieder hoch. »Heiler! Wo habt ihr gesteckt, als ich euch benötigte? Ich werde dir zeigen, was ich von euch...«
»North, bitte, North!« Der Verrückte trat aus der Gruppe von
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