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Traumschlange

Titel: Traumschlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
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grausam als freundlich. Seine Gestalt bot im trüben Licht einen unheimlichen Anblick, denn er war unerhört riesig, so groß, daß er in der Schneise unter dem Blätterdach die Schultern vornüberbeugen mußte. Er war von krankhaftem Riesenwuchs: pituitärer Gigantismus, erkannte Schlange. Auszehrung betonte die Unregelmäßigkeit seines Körperbaus zusätzlich. Er war ganz in Weiß gekleidet und außerdem ein Albino; er besaß kalkweißes Haar, weiße Brauen und Wimpern sowie sehr blasse blaue Augen.
    »Ja, North«, sagte der Verrückte. »Das ist alles.«
    Seiner Antwort folgte eine Stille, die durch Norths übermächtige, bedrückende Gegenwart erzeugt zu werden schien. Schlange meinte zwischen den Bäumen eine Bewegung wahrzunehmen, war sich jedoch nicht sicher, weil das Gehölz zu dicht und unzugänglich wirkte, um als Versteck zu dienen. Vielleicht verwanden undentwanden in diesem fremdartigen, finsteren Wald die Bäume ihre Äste so leicht, wie Liebende sich die Hände gaben; Schlange verspürte ein Schaudern.
    »Bitte, North, nimm mich wieder auf. Ich habe dir doch zwei neue Leute gebracht...«
    Schlange packte den Verrückten an der Schulter; er verstummte.
    »Warum seid ihr hier?«
    Im Laufe der letzten Wochen war Schlange immerhin so umsichtig geworden, daß sie nun davon abzusehen beschloß, North unverzüglich zu verraten; daß vor ihm eine Heilerin stand.
    »Aus dem gleichen Grund wie alle anderen«, erwiderte sie. »Wegen der Traum-schlangen.«
    »Du siehst nicht wie die Art von Weibsbildern aus, die gewöhnlich überhaupt von ihnen erfahren.«
    Er kam näher und beugte sich noch tiefer herab, um in den düsteren Lichtverhältnissen besser sehen zu können. Von ihr blickte er zu dem Verrückten, dann musterte er Melissa. Sein unbarmherziger Blick nahm einen nachsichtigeren Ausdruck an.
    »Aha, ich verstehe. Ihretwegen kommst du.«
    Fast hätte Melissa ihm eine Richtigstellung zugefaucht; Schlange sah, wie siesich aus Ärger straffte, dann jedoch zur Ruhe zwang.
    »Wir drei sind zusammen gekommen«, sagte Schlange. »Alle aus dem gleichen Grund.«
    Sie fühlte, wie sich der Verrückte regte, als wolle er vorwärtstorkeln und sich North vor die Füße werfen. Sie drückte ihre Finger fester in seine knochige Schulter, und er sackte schlaff wieder zusammen.
    »Und was habt ihr mir zu eurer Einführung mitgebracht?«
    »Ich verstehe nicht, was du meinst«, antwortete Schlange.
    Norths flüchtige Miene des Mißmuts verschwand in einem Auflachen. »Genau so etwas habe ich von diesem armseligen Narren erwartet – euch herzubringen, ohne euch unsere Bräuche zu erklären.«
    »Ich habe sie mitgebracht, North. Ich habe sie dir mitgebracht.«
    »Und sie dich, was? Das ist wohl kaum ein angemessenes Entgelt.«
    »Über die Bezahlung können wir uns im Rahmen einer Übereinkunft sicherlich einigen«, sagte Schlange. Daß North sich hier als kleiner Gott niedergelassen hatte, Tribut forderte, die Traumschlangen mißbrauchte, um seine Herrschsucht zu befriedigen, verdroß Schlange ebenso wie alles andere, was sie hier sah und hörte. Oder besser bezeichnet, es forderte sie heraus. Man hatte Schlange gelehrt – und sie war zutiefst von der Richtigkeit dieser Haltung überzeugt –‚ daß der Mißbrauch von Heilerschlangen zur Selbsterhöhung unmoralisch und unverzeihlich war. Bei anderen Menschen hatte sie Kindergeschichten vernommen, in denen Schurken oder tragische Helden magische Fähigkeiten anwandten, um sich zu Tyrannen zu erheben; das führte stets zu einem bösen Ende. Aber die Heiler kannten keine derartigen Geschichten. Nicht aus Furcht verzichteten die Heiler auf den Mißbrauch dessen, was ihnen zur Verfügung stand. Es geschah aus Selbstachtung.
    North stelzte um einige Schritte näher. »Mein liebes Kind, du verstehst das alles nicht. Wenn du erst einmal bei mir bist, kannst du nicht wieder fort, ehe ich deiner Ergebenheit völlig gewiß bin. Erstens wirst du bald gar nicht mehr fort wollen. Zweitens, wenn ich jemanden aussende, dann ist das ein Beweis, daß ich ihm vertraue. Eine Ehre.«
    Schlange wies mit dem Kinn auf den Verrückten. »Und er?«
    North lachte freudlos: »Ihn habe ich nicht ausgeschickt. Ihn habe ich fortgejagt.«
    »Aber ich weiß, wo ihre Sachen sind, North!«
    Der Verrückte riß sich von Schlange los. Diesmal ließ sie es in ihrem Abscheu geschehen.
    »Sie brauchst du ja nicht, bloß mich.« Er schlang seine Arme um Norths Knie. »Das Zeug ist unten im Tal. Wir brauchen es nur

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