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Traumschlange

Titel: Traumschlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
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Schlange nestelte, die Schachtel in den Händen, am Verschluß von Dunsts Fach. Sie schüttelte den Kopf, verscheuchte den Gedanken, Jesse solle durch Dunsts Gift sterben. Kobragift tötete schnell, nicht schmerzlos, aber rasch. Was war der Unterschied zwischen dem Verschleiern von Qual mit Träumen und ihrer Beendigung durch Herbeiführung des Todes? Schlange hatte niemals den Tod eines anderen Menschen verursacht, weder aus Zorn noch aus Mitleid. Sie wußte nicht, ob sie nun fähig war, es zu tun. Oder ob sie es sollte. Sie vermochte nicht festzustellen, ob die Abneigung, welche sie dagegen empfand, von ihrer Ausbildung herrührte oder einer tieferen, grundsätzlicheren Einsicht entsprang, aufgrund welcher es verurteilt werden mußte, Jesse zu töten. Sie hörte, wie sich die Gefährten gedämpft unterhielten, konnte jedoch nur Stimmen unterscheiden, keine Worte verstehen. Merideths Stimme war klar, wohlklingend, von mittlerer Tonlage; Alex‘ Stimme klang dunkel und rauh, die von Jesse schwerfällig und kurzatmig. Alle paar Minuten schwiegen sie, während Jesse mit einer neuen Schmerzwelle kämpfte. Jesses nächste Stunden oder Tage, der Rest ihres Lebens, mußten ihr alle Kraft und jeden Mut rauben. Schlange öffnete das Fach und ließ Dunst herausgleiten, sich um ihren Arm schlingen und ihre Schultern erklimmen.
    Sie hielt die Kobra sanft hinterm Kopf, so daß sie nicht zubeißen konnte, und ging durch das Zeit. Alle drei blickten zu ihr auf, plötzlich aus der Zuflucht ihrer selbstgenügsamen Partnerschaft geschreckt. Merideth schien sie im ersten Moment gar nicht zu erkennen. Alex sah Schlange an, dann die Kobra, zuletzt wieder deren Besitzerin, und sein Gesicht besaß einen seltsamen Ausdruck, in dem sich Resignation, Triumph und Gram mischten. Dunst züngelte, um ihre Gerüche aufzunehmen, ihre lidlosen Augen wirkten in der zunehmenden Dunkelheit wie silberne Spiegel. Jesse starrte sie an, blinzelte, zwinkerte. Sie hob die Hände, um sich die Augen zu reiben, besann sich jedoch noch rechtzeitig, ließ sie zittrig sinken.
    »Heilerin? Komm näher. Ich kann nicht richtig sehen.«
    Schlange kniete sich zwischen Merideth und Alex. Zum drittenmal wußte sie nicht, was sie zu Jesse sagen sollte., Es schien, als erblinde sie, nicht Jesse, als sikkere Blut in ihre Netzhäute, drücke auf die Nerven, verschwämme ihr Blickfeld langsam in Scharlachrot und Schwarz. Hastig zwinkerte Schlange, und ihre Sicht wurde klar.
    »Jesse, ich habe keine Möglichkeiten, um dir Schmerzen zu ersparen.« Zwischen ihren Händen regte sich geschmeidig Dunst. »Alles, was ich dir anbieten kann...«
    »Sag‘s ihr«, knurrte Alex. Er starrte wie versteinert in Dunsts Augen.
    »Glaubst du, es fällt mir leicht?« fuhr ihn Schlange an. Alex blickte nicht auf.
    »Jesse«, sagte Schlange, »Dunsts natürliches Gift kann töten. Wenn du es wünschst, daß...«
    »Was redest du da?« rief Merideth.
    Alex löste seinen wie gebannten Blick von der Kobra.
    »Merideth, sei still, wie kannst du das aushalten, wenn...«
    »Ihr seid jetzt beide still«, unterbrach ihn Schlange. »Die Entscheidung liegt bei keinem von euch, sie ist allein Jesses Sache.«
    Alex kauerte sich zurück auf die Fersen; Merideth setzte sich aufrecht, starrte vor sich hin. Jesse schwieg für eine lange Weile. Dunst versuchte, sich Schlanges Armen zu entwinden, doch Schlange hielt sie fest.
    »Die Schmerzen«, sagte Jesse, »werden nicht aufhören.«
    »Nein, nicht«, antwortete Schlange. »So leid es mir tut.«
    »Wann werde ich sterben?«
    »Der Schmerz in deinem Kopf entsteht durch Überdruck. Er kann dich... jederzeit töten.«
    Merideth sank ein, verbarg das Gesicht in den Händen, aber Schlange sah keine Möglichkeit zu rücksichtsvollerer Ausdrucksweise.
    »Die Verstrahlung läßt dir höchstens ein paar Tage.«
    Bei dieser Auskunft zuckte Jesse zusammen.
    »Noch ein paar solche Tage möchte ich nicht erleben«, sagte Jesse leise.
    Zwischen Merideths Fingern rannen Tränen.
    »Lieber Merideth, Alex versteht mich«, sagte Jesse. »Bitte versuche auch du mich zu verstehen. Es ist für mich an der Zeit, daß ich euch verlasse.«
    Aus blicklosen Augen starrte Jesse in Schlanges Richtung.
    »Laß uns für ein Weilchen allein, dann werde ich dein Geschenk dankbar annehmen.«
    Schlange erhob sich und verließ das Zelt. Ihre Knie bebten, und ihr Nacken und die Schultern schmerzten aus Verkrampftheit. Sie setzte sich in den hartkörnigen Sand und wünschte, die Nacht wäre schon

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