Traumschlange
getötet«, sagte Schlange lauter als beabsichtigt, innerlich aufgewühlt von Grimm und Kummer.
Merideth vergaß sich nicht zum zweiten Mal, aber Schlange ahnte die unausgesprochene Anschuldigung: Du konntest ihr nicht leben helfen, und nun kannst du ihr nicht einmal helfen zu sterben. Diesmal senkte Schlange den Blick. Sie verdiente dieses harte Urteil. Merideth ließ sie los und beugte sich über Jesse, kauerte über ihr wie ein starker Dämon, bereit zum Kampf wider Bestien oder auch Schatten. Jesse hob einen Arm, um Merideth zu berühren, aber plötzlich zog sie die Hand mit einem Ruck zurück. Sie starrte die weiche Mitte zwischen den Schwielen ihrer Handfläche an. Darin bildete sich ein Bluterguß.
»Wieso?«
»Der letzte Krieg«, antwortete Schlange. »In den Kratern...«
Ihre Stimme versagte.
»Also ist es wahr«, sagte Jesse. »Meine Familie glaubt, daß das Land hier draußen tötet, aber ich hielt das für eine Lüge.«
Ihre Augen verloren den Fokus; sie blinzelte, starrte in Schlanges Richtung, sah sie aber anscheinend nicht, blinzelte nochmals.
»Sie haben in so vielerlei Hinsicht gelogen. Lügen, um Kinder gehorsam zu machen...« Ganz allmählich, ein Muskel nach dem anderen, erschlaffte Jesse, die Lider sanken herab, sie schwieg; es schien, als sei sogar das Entkrampfen eine Qual, die sie nicht in einem Zuge ertragen konnte. Sie war noch bei Bewußtsein, reagierte jedoch nicht, weder mit Worten noch mit einem Lächeln oder Blicken, als Merideth ihr leuchtendes Haar streichelte, sich ihr so weit annäherte, wie es möglich war; ohne sie zu berühren. Rings um die kräftigen Farben der Blutergüsse war ihre Haut aschfahl. Plötzlich schrie sie. Sie preßte die Hände an ihre Schläfen, drückte sie gegen ihren Schädel, grub die Fingernägel in die Kopfhaut. Schlange griff nach ihren Händen, um sie fortzuziehen.
»Nicht«, stöhnte Jesse, »oh, nein, laß mich... Merideth, wie das schmerzt!«
Einige Augenblicke zuvor noch schwach gewesen, widersetzte sich Jesse nun mit fiebriger Kraftentfaltung. Schlange konnte nur versuchen, sie behutsam zu besänftigen, und unterdessen meldete sich wieder ihre innere Diagnosestimme zu Wort: Aneurysma.
In Jesses Gehirn dehnte ein durch Strahlungseinwirkung brüchiges Blutgefäß sich langsam aus. Schlanges nächster Gedanke war ihr ebenso unwillkommen und dennoch nachdrücklicher: Hoffentlich platzt es bald und ganz, so daß sie schnell stirbt. Im selben Moment bemerkte Schlange, daß Alex nicht länger an ihrer Seite war, um Jesse beruhigen zu helfen, sondern das Zelt durchquert hatte, und da hörte sie auch schon Sand klappern. Mit einem nahezu instinktiven Ruck drehte sie sich um und warf sich auf Alex. Sie rammte ihm eine Schulter in die Magengrube, und er ließ im gleichen Moment die Schachtel fallen, als von drinnen Sand zubiß. Alex sackte zusammen. Schlange fühlte in ihrem Bein einen Schmerz stechen und holte mit den Fäusten aus, um ihn zu schlagen, doch dann beherrschte sie sich; sie sank auf ein Knie. Am Boden rollte Sand seinen Leib ein und klapperte leise, bereit zu nochmaligem Beißen. Schlanges Herzschlag wummerte.
Sie fühlte den Puls durch ihren Schenkel pochen. Ihre Oberschenkelarterie war weniger als eine Handbreit von der Stelle entfernt, wo Sand seine Fangzähne in die Muskulatur gegraben hatte.
»Du Narr! Willst du dich umbringen.?«
Es pochte noch einige Male in ihrem Bein, dann neutralisierten ihre Abwehrstoffe das Gift. Sie war heilfroh, daß Sand die Arterie verfehlt hatte. Ein derartiger Biß konnte selbst sie für kurze Zeit erkranken lassen, und dies waren für eine Erkrankung nicht die richtigen Umstände. Der Schmerz wurde schwächer und dumpf.
»Wie kannst du sie unter solchen Schmerzen sterben lassen?« fragte Alex.
»Sand könnte ihr bloß noch mehr Schmerzen bereiten.«
Sie verhehlte ihre Wut, beugte sich über den Diamantenrücken und hob Sand auf, ließ ihn zurück in die Schachtel gleiten.
»Klapperschlangen bescheren keinen schnellen Tod.«
Das war nicht völlig wahr, aber Schlange verspürte noch immer Ärger genug, um ihnen gerne Furcht einzujagen.
»Wenn jemand an ihrem Biß stirbt, dann durch Infektion. Durch Gangrän.«
Alex erbleichte, gab aber noch nicht auf. Merideth rief ihn. Alex schaute hinüber zu seinem Gefährten, dann musterte er noch einmal in herausfordernder Weise Schlange.
»Und was ist mit der anderen Schlange?«
Er kehrte ihr den Rücken zu und begab sich wieder an Jesses Seite.
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