Traumschlange
gefährlich...«
»Glaubst du etwa all diese alten Legenden, Heilerin? Seit einem Jahrzehnt kommen wir hierher, und nie haben wir Schaden erlitten.«
Dies war nicht der rechte Moment für zornige Erwiderungen. Schlange sah hinüber zu Jesse und begriff, daß ihr Nichtwissen und die Geringschätzung der Dreierschaft für die Gefährlichkeit der Überbleibsel der alten Welt Jesse unbeabsichtigt zu einem gewissen Maß an Gnade verholfen hatten. Schlange verfügte gegen die Strahlenkrankheit über Behandlungsmöglichkeiten, aber in einem so schweren Fall gab es keine Heilung. Was sie auch getan hätte, es wäre nur zum Hinauszögern von Jesses Tod geeignet gewesen.
»Was ist mit ihr?« Erstmals zeugte Merideths Stimme von Furcht.
»Sie ist durch Strahlung vergiftet.«
»Vergiftet? Wie das? Sie hat nichts gegessen oder getrunken, das wir nicht auch verzehrt haben.«
»Die Strahlung ist im Krater. Der Boden ist tödlich. Die Legenden sind wahr.«
Unter seiner tiefen Sonnenbräune war Merideth nun bleich. »Dann unternimm etwas, hilf ihr!«
»Ich kann nichts tun.«
»Du kannst ihre Brüche nicht heilen, du kannst ihre Krankheit nicht behandeln...!«
Sie starrten einander an, beide gekränkt und zornig. Dann war es Merideth, der den Blick senkte. »Es tut mir leid. Ich hatte kein Recht....«
»Bei den Göttern, Merideth, ich wollte, ich wäre allmächtig. Aber ich bin es nicht.«
Ihr Wortwechsel weckte Alex, der sich erhob und herüberkam, sich reckte und kratzte.
»Zeit zum...«
Er schaute zwischen Merideth und Schlange hin und her, dann richtete er seinen Blick an ihnen vorbei auf Jesse.
»O ihr Götter...!«
Aus dem frischen Mal an ihrer Stirn, wo Schlange sie berührt hatte, sickerte langsam Blut.
Alex warf sich an ihre Seite, wollte sie anfassen, aber Schlange hinderte ihn daran. Er versuchte, sie zur Seite zu drängen.
»Alex, ich habe sie kaum berührt, und trotzdem ist das entstanden. Du kannst ihr so nicht helfen.«
Er sah sie ausdruckslos an.
»Wie denn?«
Schlange schüttelte ihren Kopf. Alex wich zurück, Tränen in den Augen.
»Das ist ungerecht!«
Er lief aus dem Zelt. Merideth machte Anstalten, ihm zu folgen, doch an der Zeltlasche zögerte er; dann machte er kehrt.
»Er kann‘s nicht begreifen. Er ist noch zu jung.«
»Er begreift durchaus«, widersprach Schlange. Sie tupfte Jesses Stirn ab und versuchte dabei, weder zu reiben noch auf die Haut Druck auszuüben. »Und es stimmt, es ist ungerecht. Wer hat denn jemals behauptet, irgend etwas in der Welt sei gerecht?«
Sie nahm von weiteren Äußerungen Abstand, um Merideth ihre Verbitterung über den Verlust von Jesses letzter Chance zu ersparen, genommen durch das Schicksal, durch Unwissenheit und die Folgen des Wahnsinns einer vergangenen Generation.
»Merideth?« Jesse tastete mit einer zittrigen Hand in der Luft umher.
»Ich bin hier.«
Merideth hob eine Hand, aber er fürchtete zu sehr die Folgen, so daß er sie nicht berührte.
»Was ist geschehen? Warum...?«
Langsam blinzelte sie; ihre Augen waren blutunterlaufen.
»Vorsichtig«, flüsterte Schlange. Merideths Hände schlossen sich mit der Sanftheit von Vogelschwingen um Jesses Finger.
»Ist es Zeit zum Aufbrechen?«
Ihre Bereitwilligkeit war durchsetzt mit Schrecken, mit Abwehr gegen die unausweichliche Erkenntnis, daß sich etwas in bedrohlicher Weise geändert hatte.
»Nein, Liebes.«
»Es ist so heiß...«
Sie begann den Kopf zu heben, ihr Gewicht zu verlagern. Plötzlich erstarrte sie mit einem Aufkeuchen. Ohne bewußte Mühe erkannte Schlange, worum es sich handelte, nahm sie augenblicklich die nüchterne, inhumane Analyse vor, entsprechend ihrer Ausbildung: Blutungen in den Gelenken. Innere Blutungen. Und in ihrem Hirn?
»So hat es bis jetzt nie geschmerzt.« Ohne den Kopf zu bewegen, sah sie Schlange an. »Das ist etwas anderes. Schlimmer.«
»Jesse, ich...«
Schlange bemerkte ihre Tränen erst durch den salzigen Geschmack auf ihren Lippen, wo sie sich mit den Sandpartikelchen des Wüstenstaubs vermengten. Worte erstickten in ihrer Kehle. Alex kam gebeugt zurück ins Zelt. Jesse wollte noch etwas sagen, brachte jedoch bloß ein Keuchen zustande. Merideth packte Schlanges Arm. Sie spürte seine Fingernägel ihre Haut ritzen.
»Sie stirbt.« Schlange nickte. »Heiler verstehen Beistand zu leisten... sie wissen, wie man...«
»Nein, Merideth«, flüsterte Schlange.
»...wie man den Schmerz nimmt.«
»Sie kann es nicht...«
»Eine meiner Schlangen wurde
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