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Traumschlange

Titel: Traumschlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
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weiterleben, daß sie beinahe die Urheberin von Jesses Tod geworden wäre. Als sie gesehen hatte, daß der Groll gegen seine eigene Person aus Merideths Miene gewichen war, wandte sie sich jenem Ende der Schlucht zu, wo die Geröllhalde lag, wo man über den Hang in die Lavaebene gelangte.
    »Wohin gehst du?« Alex holte sie ein.
    »Zurück zu meinem Lagerplatz«, gab sie mit matter Stimme zur Antwort.
    »Bitte warte noch einen Moment. Jesse wollte dir etwas geben.«
    Hätte er gesagt, Jesse habe sie gebeten, ihr ein Geschenk zu machen, sie würde es verweigert haben, aber daß Jesse selbst ihr etwas hatte geben wollen, bedeutete ihr irgendwie einen Unterschied. Dennoch blieb sie nur widerwillig stehen.
    »Ich kann nichts annehmen«, sagte sie. »Laß mich gehen, Alex.«
    Er drehte sie mit sanftem Nachdruck um und führte sie zurück ins Lager. Merideth war fort, entweder im Zelt bei Jesses Leichnam oder allein mit seiner Trauer.
    Jesse hatte ihr ein Pferd vermacht, eine dunkelgraue, beinahe schwarze Stute, ein Tier mit feinen Gliedmaßen, das nach Schnelligkeit und Mut aussah. Trotz ihres Widerstrebens, trotz der Tatsache, daß das nicht das Pferd einer Heilerin war, hob Schlange ihre Hände, um die Stute zu berühren, und zugleich erhob sich ihr Herz. Die Stute schien für Schlange der einzige Gegenstand zu sein, den sie seit – sie wußte selbst nicht, seit wann – gesehen hatte, der allein Schönheit und Kraft war, von aller Tragik unangetastet. Alex reichte ihr die Zügel, und sie schloß die Hände um das weiche Leder. Das Zaumzeug besaß Goldeinlagen in Merideths zerbrechlichem Filigranstil.
    »Ihr Name lautet Wind«, sagte Alex.
     
    Schlange ritt allein die weite Strecke hinweg über die Lava, die sie bis zum Morgen zurückgelegt haben mußte. Die Hufe der Stute hallten auf dem steinernen Untergrund, und von hinten rieb die Lederschachtel an Schlanges Bein. Sie wußte, daß sie nicht heim zur Niederlassung der Heiler konnte. Noch nicht. Der heutige Abend hatte bewiesen, daß sie nicht davon ablassen konnte, eine Heilerin zu sein, ganz gleichgültig, wie unzureichend ihre Hilfsmittel sein mochten.
    Wenn ihre Lehrer ihr Sand und Dunst fortnahmen und sie verstießen, würde sie es, das war ihr nun klar, nicht ertragen können. Sie müßte angesichts des Wissens, daß an diesem Ort, in jenem Zeltlager Erkrankungen oder Todesfälle auftraten, die sie hätte heilen, denen sie hätte vorbeugen können oder die sie zu erleichtern vermocht hätte, den Verstand verlieren. Immer würde sie irgendwie einzugreifen versuchen. Man hatte sie zu Stolz und Selbstbewußtsein erzogen, und diese Eigenschaften müßte sie unterdrücken, begäbe sie sich nun zurück zur Niederlassung. Sie hatte Jesse versprochen, ihre Kunde in der Stadt auszurichten, und sie gedachte das Versprechen zu halten. Sie würde für Jesse in die Stadt gehen; und um ihrer selbst willen.
     

4
    Arevin saß auf einem Felsklotz, und in einer Schlinge auf seiner Brust brabbelte das Kind seiner Verwandten. Die Wärme und Geschäftigkeit des neuen Lebewesens waren ihm ein Trost, während er hinaus in die Wüste starrte, in die Richtung; wohin sich Schlange entfernt hatte. Stavin war wohlauf, das neue Kind gesund; Arevin wußte, daß er dankbar und froh über das Glück des Klans sein sollte, und deshalb verspürte er wegen seines anhaltenden Mißmuts ein unbestimmtes Schuldgefühl. Er berührte die Stelle an seiner Wange, wo der weiße Schlangenschwanz ihn getroffen hatte. Wie von Schlange vorausgesagt, war keine Narbe zurückgeblieben. Es kam ihm ausgeschlossen vor, daß sie schon so lange fort sein sollte, wie der Kratzer gebraucht hatte, um zu verschorfen und zu verheilen, denn er entsann sich an ihre gesamte Erscheinung so genau, als weile sie noch unter ihnen. Der Erinnerung an Schlange fehlte die Verschwommenheit, welche Entfernung und Zeit den meisten Bekanntschaften auferlegen. Gleichzeitig hatte Arevin das Gefühl, als sei sie für immer verschwunden.
    Einer der großen Moschusochsen, die der Stamm hielt, kam heran und rieb sich an dem Felsen, kratzte sich lebhaft die Flanke. Die Kuh schnob Arevin an, stubste mit der Nase sein Bein und leckte mit ihrer dicken rosa Zunge an seinem Stiefel. In der Nähe kaute ihr halberwachsenes Kalb an den dürren, blattlosen Zweigen eines Wüstenstrauches. In jedem heißen Sommer magerten sämtliche Tiere der Herde ab; ihre Häute waren nun stumpf und harsch. Sie überstanden die Hitze gut, wenn man ihnen im

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