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Traumschlange

Titel: Traumschlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
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vorüber. Sie schaute zum Himmel empor, der ein schmaler Streifen zwischen den Wällen der Schlucht war.
    Die Wolken wirkten heute besonders dick und undurchlässig, denn obwohl der Mond noch gar nicht hoch genug stand, um bereits sichtbar zu sein, hätte etwas von seinem Licht zu hellem Glanz zerstreut sein müssen. Plötzlich erkannte sie, daß die Wolken nicht außergewöhnlich dick waren, sondern vielmehr sehr dünn und flüchtig, zu feindunstig, um Helligkeit zu verbreiten. Sie trieben in einem Wind, der nur in großer Höhe wehte. Während sie hinaufblickte, teilte sich eine Wolkenbank, und Schlange sah den klaren Himmel, schwarz und tiefräumig und übersät mit schillernden Lichtpünktchen. Schlange starrte zu ihnen empor und hoffte, daß die Wolkendecke sich nicht wieder schloß, wünschte sich, jemand wäre hier bei ihr, um diesen Anblick mit ihr zu teilen. Planeten umkreisten manche dieser Sterne, und Leute lebten darauf, Leute, die Jesse vielleicht zu helfen vermocht hätten, wüßten sie bloß, daß es sie überhaupt gab. Schlange fragte sich, ob ihr Plan eigentlich irgendwelche Erfolgsaussichten besessen hatte oder ob Jesse ihm nur zustimmte, weil unter ihrem oberflächlichen Zustand des Schreckens und der Resignation der Lebenswille zu stark gewesen war, um einfach aufzugeben.
    Im Zeltinnern enthüllte jemand ein klares Behältnis mit Leuchtzellen. Die blaue Biolumineszenz waberte durch den Eingang über den schwarzen Sand.
    »Heilerin, du möchtest kommen.«
    Im Zelteingang zeichnete sich Merideths Gestalt ab; seine Stimme war ihres Wohlklangs entblößt, er war hochgewachsen, verhärmt und hager, wie er dort stand. Schlange kehrte mit Dunst zurück ins Zelt. Merideth sagte nichts mehr. Auch Alex sah mit einem flüchtigen Ausdruck von Unsicherheit und Furcht zu ihr auf. Doch Jesses blinde Augen hießen sie willkommen. Merideth und Alex verharrten an ihrer Bettstatt wie zwei Wächter.
    Schlange blieb stehen. Sie zweifelte ihren Entschluß nicht an, aber die allerletzte Entscheidung lag bei Jesse.
    »Kommt, küßt mich«, sagte Jesse. »Dann laßt uns allein.«
    Merideth fuhr herum. »Du kannst uns doch jetzt nicht fortschicken!«
    »Ihr habt bereits genug zu vergessen.«
    Jesses Stimme bebte aus Schwäche. Das Haar hing ihr in wirren Strähnen über Stirn und Wangen, und in ihrer Miene war nichts verblieben als Duldung am Rande völliger Erschöpfung. Schlange sah es, ebenso Alex, aber Merideth stand mit gebeugten Schultern und starrte auf den Boden. Alex kniete nieder und hob Jesses Hände behutsam an seine Lippen. Beinahe ehrfurchtsvoll küßte er ihre Finger, die Wangen und ihren Mund. Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter und ließ sie dort einen Moment lang. Bedächtig erhob sich Alex, sah stumm Schlange an und
    verließ das Zelt.
    »Merideth, bitte nimm Abschied, ehe du hinausgehst.«
    Von der Beharrlichkeit ihres Wunsches überwältigt, kniete sich Merideth bei ihr hin, strich ihr das Haar aus dem von Blutergüssen gezeichneten Gesicht und nahm sie zärtlich in seine Arme. Sie erwiderte die Umarmung. Keiner von beiden wagte ein Wort des Trostes. Während Merideth das Zelt verließ, dauerte das Schweigen länger an, als es Schlange lieb war; als draußen die Schritte nur noch wie ein Wispern von Sand und Leder klangen, erbebte Jesse und stieß einen Laut aus, der teils Schluchzen war, teils Stöhnen.
    »Heilerin?«
    »Ich bin hier.« Sie hob ihre Handfläche unter Jesses ausgestreckte Hand.
    »Glaubst du, es wäre uns gelungen?«
    »Ich weiß es nicht«, antwortete Schlange, die sich daran erinnerte, wie eine ihrer Lehrerinnen von der Stadt zurückkehrte, wo sie nur verschlossene Tore vorgefunden hatte und niemanden, der auch nur mit ihr sprechen wollte.
    »Ich würde lieber glauben können, wir hätten es geschafft.«
    Jesses Lippen verdunkelten sich blaurot. Ihre Unterlippe war aufgeplatzt. Schlange tupfte das Blut ab, aber es war dünn wie Wasser, und sie vermochte den Blutfluß nicht zu stillen.
    »Du gehst hin«, flüsterte Jesse.
    »Was?«
    »Zur Stadt. Du hast einen Anspruch.«
    »Nein, Jesse, ich...«
    »Doch. Sie leben unter einem steinernen Himmel und fürchten sich vor allem außerhalb der Stadt. Sie können dir helfen, und sie brauchen deine Hilfe. Noch ein paar Generationen, und sie werden allesamt verrückt sein. Richte ihnen aus, daß ich lebte und glücklich war. Sag ihnen, ich hätte vielleicht noch weitergelebt, wären sie der Wahrheit treu gewesen. Alles hier draußen töte,

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