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Traumschlange

Titel: Traumschlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
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Frühjahr, sobald sie die Winterbehaarung abzulegen begannen, die warme Unterwolle herausbürstete ; und weil der Stamm die Ochsen ja eben wegen ihrer feinen, weichen Winterwolle hielt, vergaß man das Bürsten nie. Doch die Ochsen hatten nun, so wie die Menschen, genug vom Sommer, von der Hitze, vom Zusammensuchen trockener, geschmackloser Nahrung.
    Auf ihre milde Weise gierten die Tiere jetzt nach dem frischen Gras der Winterweiden. Gewöhnlich wäre auch Arevin nur zu erfreut über die baldige Rückkehr zu den Plateaus gewesen. Der Säugling fuchtelte mit winzigen Händchen in der Luft,
    erwischte Arevins Finger und zog ihn herab. Arevin lächelte.
    »Das ist etwas, Kleiner, was ich nicht für dich tun kann«, sagte er.
    Das Kind saugte an seiner Fingerkuppe und lutschte zufrieden, ohne Verdruß zu äußern, als keine Milch floß. Die Augen des Kindes waren blau, so wie Schlanges Augen. Viele Kinderaugen sind blau, dachte Arevin. Doch nunmehr genügten blaue Kinderaugen, um ihn in Träumereien versinken zu lassen. Er träumte fast jede Nacht von Schlange – oder fast jede Nacht, in der er überhaupt schlief. Niemals zuvor hatte er für jemanden so empfunden. Er klammerte sich an die Erinnerung an jene wenigen Anlässe, bei denen sie sich berührten: als sie in der Wüste aneinandergelehnt saßen; ihre kräftigen Finger auf seiner verletzten Wange; in Stavins Zelt, als er sie tröstete. Es wirkte absurd, daß ausgerechnet jener Moment vor ihrem Fortgang der glücklichste seines Lebens gewesen zu sein schien, als er sie umarmt und gehofft hatte, sie werde sich zum Bleiben entschließen. Und sie wäre geblieben, dachte er. Weil wir eine Heilerin gebrauchen können... und zum Teil vielleicht wegen mir. Hätte sie es gekonnt, sie wäre länger geblieben. Solange er sich zurück entsinnen konnte, war dies die einzige Gelegenheit, daß er sich einmal ausgeweint hatte. Doch er verstand, daß sie mit ihrer beeinträchtigten Leistungsfähigkeit nicht hatte bleiben wollen, denn er fühlte sich gegenwärtig ebenfalls beeinträchtigt.
    Zu nichts war er noch so richtig nutze. Er wußte es, aber er vermochte dagegen nichts zu tun. Jeden Tag hoffte er von neuem, Schlange werde zurückkehren, obwohl er wußte, daß sie nicht kommen würde. Er besaß keine Vorstellung davon, wie weit jenseits der Wüste ihr Ziel lag. Sie mochte von jener Niederlassung der Heiler aus eine Woche, einen Monat oder ein halbes Jahr lang unterwegs gewesen sein, ehe sie beschloß, die Wüste zu durchqueren und neue Gegenden und andere Menschen kennenzulernen.
    Er hätte mit ihr ziehen sollen. Davon war er heute überzeugt. In ihrem Kummer hatte sie nichts mit ihm anzufangen gewußt, aber er hätte sofort einsehen müssen, daß sie ihren Lehrern, was hier geschehen war, niemals in angemessener Weise zu erklären vermochte. Selbst Schlanges Einfühlungsvermögen konnte ihr keinen Begriff von dem Schrecken vermitteln, den Arevins Volk vor Schlangen empfand. Arevin verstand es aus Erfahrung, aufgrund der Alpträume, die ihn nach dem Tod seiner kleinen Schwester noch immer heimsuchten, aufgrund des kalten Schweißes, der ihm am ganzen Körper ausgebrochen war, als Schlange ihn bat, jene Kobra namens Dunst zu halten. Und aufgrund der eigenen grauenhaften Furcht, die er empfand, als die Sandnatter in Schlanges Hand gebissen hatte, denn da liebte er sie bereits, und in jenem Moment war er dessen sicher, daß sie sterben müsse. Schlange stand im Zusammenhang mit den beiden einzigen Wundern, die Arevin jemals erlebt hatte. Das erste Wunder war: sie starb nicht; das zweite: sie hatte Stavins Leben gerettet.
    Das Kind kniff die Augen zusammen und nuckelte kräftiger. Arevin ließ sich vom Felsen rutschen und streckte eine Hand aus. Die schwergewichtige Moschusochsenkuh legte ihr Kinn auf seine Handfläche und ließ sich am Unterkiefer kratzen.
    »Wirst du diesem Kind ein wenig Nahrung abgeben?« fragte Arevin.
    Er tätschelte ihren Rücken, ihre Flanke und den Bauch, dann kniete er neben ihr nieder. Sie hatte um diese Jahreszeit nicht länger allzuviel Milch, aber das Kalbwar nahezu entwöhnt. Mit seinem Ärmel reizte er eine Zitze, dann hielt er das Kind in deren Reichweite. Das Kind saugte hungrig daran, vor dem riesigen Tier nicht furchtsamer als Arevin. Als der Hunger des Säuglings gestillt war, kratzte Arevin die Moschusochsenkuh nochmals unterm Kinn und kletterte wieder auf den Felsklotz. Nach einer Weile schlief das Kind ein, seine winzigen Finger um

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