Traumschlange
leicht im trüben Licht der Morgendämmerung, daß Schlange zuerst glaubte, es handele sich lediglich um eine Luftspiegelung.
Sie fühlte sich noch nicht wieder so recht dazu imstande, Einbildung und Wirklichkeit zu unterscheiden. Sie war die ganze Nacht ununterbrochen geritten, um den Lavastreifen zu überqueren, ehe die Sonne aufging und die Hitze unerträglich anstieg. Ihre Augen brannten, und ihre Lippen waren trocken und aufgeplatzt.
Wind, die graue Stute, hob den Kopf und spitzte die Ohren, ihre Nüstern flatterten, als sie das Wasser witterte, nach dem längeren Zeitraum verknappter Wasserzuteilung begierig darauf, es zu erreichen; Schlange zügelte es nicht, als das Pferd zu traben begann.
Sie gelangten in den Baumbestand der Oase, und die zierlichen Bäume streiften Schlanges Arme mit fedrigem Laub. Die Luft unter den Bäumen war beinahe kühl und schwer vom Duft reifer Früchte. Schlange entfernte den Zipfel des Kopftuchs von ihrem Gesicht und atmete tief ein. Sie stieg ab und führte Wind an das dunkle, klare Gewässer. Die Stute senkte ihr Maul ins Wasser und trank. Sogar ihre Nüstern waren unter der Oberfläche. Schlange kniete sich daneben hin und schöpfte Wasser mit den Händen. Es sickerte zwischen ihren Fingern hindurch, plätscherte und erzeugte Ringe auf dem Wasserspiegel. Sie breiteten sich aus, verliefen sich, und Schlange sah sich überm schwarzen Sand widergespiegelt. Staub bedeckte ihr Gesicht. Ich sehe aus wie ein Räuber, dachte sie. Oder ein Clown. Aber das Lachen, das sie verdiente, war eines der Verachtung, nicht des Frohsinns. Tränenspuren hatten den Schmutz in ihrem Gesicht mit Streifen durchzogen. Sie berührte sie, den Blick unverändert abwärts auf ihr Spiegelbild gerichtet.
Schlange wünschte, die vergangenen paar Tage vergessen zu können, aber sie würden niemals aus ihrer Erinnerung weichen. Noch immer meinte sie die spröde Zartheit von Jesses Haut zu spüren, die sanfte, wie fragende Berührung ihrer Hand;sie hörte innerlich noch ihre Stimme. Und sie fühlte die Qual von Jesses Tod mit, den sie nicht zu verhindern und nicht zu erleichtern vermocht hatte. Sie wollte niemals wieder solche Qual erleben müssen. Schlange tauchte ihre Hände in das kühle Wasser und spritzte sich welches ins Gesicht, wusch den schwarzen Staub fort, den Schweiß und auch ihre Tränenspuren. Sie führte Wind geruhsam um den Teich und vorüber an Zelten und stillen Lagerplätzen, wo die Reisenden der Karawanen noch schliefen. Sie verharrte an Grums Lager; aber die Zeltklappen waren noch geschlossen. Schlange wollte die Alte oder ihre Enkel nicht stören.
In einiger Entfernung vom Ufer konnte sie die Pferdekoppel sehen. Eichhörnchen, ihr Tigerpony, stand bei Grums Pferden, versunken in oberflächlichem Schlummer. Sein Fell, schwarz und goldgelb, zeigte die Wirkung einer vollen Woche nachdrücklichen Striegelns, es sah satt und zufrieden aus, und anscheinend störte es sich nicht länger an seinem unbeschlagenen Huf. Schlange entschied, es noch für einen weiteren Tag in Grums Obhut zu lassen und so früh am Morgen weder die alte Karawanserin noch das Tigerpony aufzuscheuchen.
Wind folgte Schlange am Ufer entlang und versuchte bisweilen, an ihrer Hüfte zu knabbern. Schlange kraulte die Stute hinter den Ohren, wo unterm Zaumzeug Schweiß getrocknet war. Arevins Stamm hatte ihr für Eichhörnchen einen Sack Heu mitgegeben, aber da Grum das Pony verpflegte, mußte das Futter sich noch am Lagerplatz befinden.
»Essen, anständige Pflege und Schlaf, das ist es, was wir zwei jetzt brauchen«, sagte sie zu dem Pferd.
Sie hatte ihr Lager abseits von den anderen Reisenden, hinter Felsen, die aus dem Untergrund auf ragten, in einem Bereich der Oase, der weniger Zulauf fand. Sowohl für andere Leute wie auch für ihre Schlangen war es besser, wenn sie möglichst wenig miteinander zu schaffen hatten. Schlange umrundete den schrägen Steinwall. Alles war verändert. Ihr Bettzeug hatte sie unordentlich zurückgelassen, verwühlt, aber alles andere war noch eingepackt gewesen. Nun hatte jemand ihre Decken zusammengefaltet und aufgestapelt, daneben ihre übrige Kleidung aufgeschichtet und ihr Eßgeschirr im Sand aufgereiht. Sie runzelte die Stirn und trat näher.
Heiler betrachtete man mit Respekt, sogar mit Ehrfurcht; Schlange hatte gar keinen Gedanken daran verschwendet, Grum zu bitten, nicht nur auf das Pony, sondern auch auf ihre Ausstattung zu achten. Es wäre ihr niemals eingefallen, daß jemand
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