Traumschlange
Arevins Hand geklammert.
»Holla, Anverwandter!«
Er sah sich um. Das Stammesoberhaupt erklomm den Felsen von der Seite und setzte sich neben ihn, das lange Haar gelöst und locker im leichten Wind. Die Frau beugte sich vor und lächelte den Säugling an.
»Wie hat das Kind sich benommen?«
»Tadellos.«
Sie schüttelte sich das Haar aus dem Gesicht.
»Auf dem Rücken kann man sie viel leichter herumtragen. Und ab und zu auch einmal absetzen.« Sie lächelte.
Nicht immer war sie so zurückhaltend und würdevoll, wie beim Empfang von Gästen des Klans. Arevin brachte ein Lächeln zustande. Sie legte eine Hand auf die seine, auf jene Hand, die das Kind mit seinen Fingerchen hielt.
»Mein Lieber, muß ich dich erst fragen, was mit dir los ist?«
Verlegen hob Arevin die Schultern.
»Ich werde mich bemühen, meine Sache besser zu machen«, sagte er. »In letzter Zeit war ich zu nichts von Nutzen.«
»Glaubst du, ich bin gekommen, um dich zu kritisieren?«
»Kritik wäre angebracht.«
Arevin vermied es, das Stammesoberhaupt, seine Base, anzusehen; vielmehr ruhte sein Blick auf ihrem friedlichen Kind. Sie ließ seine Hand los und schlang ihren Arm um seine Schultern.
»Arevin«, sagte sie und sprach ihn damit zum drittenmal in seinem Leben direkt mit seinem Namen an, »ich schätze dich sehr. Du könntest zu gegebener Zeit, falls du es überhaupt möchtest, zum Stammesoberhaupt gewählt werden. Aber du mußt deinen inneren Frieden wiederfinden. Wenn sie dich nicht wollte...«
»Wir wollten einander«, entgegnete Arevin. »Aber sie konnte ihre Tätigkeit hier nicht fortsetzen und sagte, ich dürfe nicht mit ihr gehen. Jetzt kann ich ihr nicht folgen.«
Er betrachtete das Kind. Seit dem Tod seiner Eltern galt Arevin als Angehöriger der Sippe seiner Base. Sie umfaßte sechs Ehepartner, zwei, nein, nunmehr drei Kinder und Arevin. Seine Zuständigkeiten waren nicht klar eingeteilt, aber er fühlte sich für die Kinder verantwortlich. Vor allem jetzt, da der Zug nach den Winterweiden bevorstand, brauchte der Klan die Mitarbeit jedes Angehörigen. Von nun an bis zur Ankunft bedurften die Moschusochsen bei Tag und Nacht der Aufsicht, oder sie wanderten ostwärts, immer ein paar gemeinsam, um die frischen Weiden zu suchen, und man sah sie nie wieder. Für die Menschen war die Nahrungsbeschaffung in dieser Jahreszeit kein geringeres Problem. Aber wenn sie zu früh aufbrachen, bestand die Gefahr, daß das Gras der Winterweiden noch zu jung und zart war und die Herde es gleich zertrampelte.
»Sage mir, was du sagen möchtest.«
»Ich weiß, daß der Klan gerade jetzt niemanden entbehren kann. Ich trage Verantwortung, vor dir, für die Kinder... Aber die Heilerin – wie soll sie erklären, was sich hier ereignet hat? Wie soll sie es ihren Lehrern verständlich machen, wenn sie es selbst nicht begreift? Ich sah den Biß einer Sandnatter. Blut und Gift sah ich über ihre Hand rinnen. Aber sie bemerkte ihn kaum. Sie meinte, eigentlich hätte sie davon gar nichts bemerken dürfen.«
Arevin sah die Freundin an, weil er bisher die Sandnatter niemandem gegenüber erwähnt hatte, in der Annahme, man werde ihm keinen Glauben schenken. Das Stammesoberhaupt war verblüfft, stellte seine Behauptung jedoch nicht in Frage.
»Wie soll sie erklären, warum wir fürchteten, was sie uns zu bieten hatte? Sie wird ihren Lehrern berichten, daß sie einen Fehler begangen habe und jene kleine Schlange deshalb ums Leben kam. Sie gibt sich selbst die Schuld. Ihre Lehrer werden sie ihr ebenfalls beimessen und sie bestrafen.«
Das Stammesoberhaupt schaute hinaus über die Wüste. Die Frau hob eine Hand und schob sich eine Strähne ergrauten Haars hinters Ohr.
»Sie ist eine stolze Frau«, sagte sie. »Du hast recht. Sie wird niemals Ausreden vorschieben.«
»Wenn man sie verstößt, wird sie nicht zurückkehren«, sagte Arevin. »Ich weiß nicht, wohin sie dann gehen würde, aber ich sähe sie niemals wieder.«
»Die Stürme ziehen herauf«, sagte das Oberhaupt unvermittelt.
Arevin nickte.
»Wenn du ihr folgst...«
»Ich kann nicht! Doch nicht jetzt!«
»Mein Lieber«, sagte das Oberhaupt, »wir verrichten unsere Angelegenheiten so, wie wir sie tun, damit wir alle die meiste Zeit möglichst frei sind, statt sie so abzuwickeln, daß nur einige wenige frei sind, dafür aber immer. Du machst dich zum Sklaven deiner Verantwortung, während außergewöhnliche Umstände Freiheit fordern. Wärst du einer unserer Ehepartner und mit der
Weitere Kostenlose Bücher