Traumschlange
Aufgabe betraut, dieses Kind zu versorgen, wäre das Problem schwieriger, aber doch auch nicht zwangsläufig unlösbar. Tatsächlich hat mein Ehegefährte jetzt mehr Zeit, als er sich zu jenem Zeitpunkt erhoffen konnte, als wir das Kind zu zeugen beschlossen. Das ist infolge deiner Bereitschaft der Fall, mehr zu tun, als du müßtest.«
»So ist es ja gar nicht«, widersprach Arevin hastig. »Ich wollte mit dem Kind helfen. Ich mußte es. Ich brauchte...« Er verstummte, sich anscheinend nicht länger darüber im klaren, was er zu äußern beabsichtigte. »Ich war froh, daß er mir zu helfen erlaubte.«
»Ich weiß. Ich hatte nichts dagegen. Aber es verhält sich keineswegs so, daß er dir einen Gefallen tat. Vielmehr hast du ihm einen erwiesen. Vielleicht ist es nun an der Zeit, ihm die Verantwortung zurückzugeben.« Sie lächelte zärtlich. »Er neigt dazu, sich zu weit in seine Arbeit zu verrennen.«
Ihr Ehepartner war Weber, der beste des Stammes, aber sie hatte recht: Manchmal schien er im Traum durchs Leben zu gehen.
»Ich hätte sie niemals ziehen lassen dürfen«, sagte Arevin plötzlich. »Warum habe ich das nicht sofort begriffen? Ich hätte es verstehen müssen, meine Schwester zu beschützen, aber ich habe versagt, und nun bin ich auch an der Heilerin gescheitert. Sie hätte bei uns bleiben sollen. Wir hätten ihr Schutz geboten.«
»Sie wäre handlungsuntüchtig gewesen.«
»Sie konnte noch immer heilen...«
»Mein lieber Freund«, sagte Arevins Verwandte, »es ist unmöglich, jemanden völlig zu schützen, ohne ihn zu versklaven. Ich glaube, das hast du nie begriffen, weil du immer zuviel von dir selbst verlangt hast. Du machst dir Vorwürfe wegen des Todes deiner Schwester...«
»Ich habe nicht aufmerksam genug auf sie geachtet.«
»Was hättest du tun können? Erinnere dich an ihr Leben, nicht an ihren Tod. Sie war tapfer, fröhlich und überheblich, ganz wie ein Kind sein soll. Du wärst sie nur besser zu schützen imstande gewesen, hättest du sie mit Furcht an dich gekettet. Dann aber hätte sie nicht leben und die Person bleiben können, die du liebtest. Und das gleiche, glaube ich, gilt für die Heilerin.«
Arevin starrte auf das Kind in seinen Armen hinab, sich dessen bewußt, daß seine Verwandte recht hatte, aber noch nicht dazu fähig, seine Gefühle der Verwirrung und der Schuld abzustreifen.
Sie tätschelte sanft seine Schulter. »Du kennst die Heilerin am besten, und du sagst, sie könne unsere Furcht nicht erklären. Ich glaube, du hast damit recht. Ich hätte es selber merken müssen. Ich möchte nicht, daß sie für etwas bestraft wird, das wir getan haben, und ich wünsche auch nicht, daß man unser Völkchen in der Fremde mißversteht.«
Die stattliche Frau betastete den metallenen Ring, der an seinem schmalen Lederband um ihren Hals baumelte.
»Ja, du hast recht. Jemand muß die Niederlassung der Heiler aufsuchen. Ich könnte es sein, weil ich die Verantwortung für die Ehre des Stammes trage. Oder der Ehepartner meines Bruders, weil er es war, der die kleine Schlange tötete. Oder du, weil du die Heilerin deine Freundin nennst. Der Klan muß sich zusammenfinden, um zu entscheiden, wer es sein soll. Aber jeder von uns könnte Oberhaupt sein, und jeder unter uns hätte ihre kleine Schlange genug fürchten können, um sie zu töten: Nur du bist ihr Freund geworden.«
Sie richtete den Blick vom Horizont auf Arevin; er wußte, daß sie bereits lange genug Oberhaupt war, um so zu denken, wie der ganze Stamm dachte.
»Danke«, sagte er.
»So viele Menschen hast du verloren, die du liebtest. Nichts vermochte ich zu tun, als deine Eltern starben, nichts, als deine Schwester ums Leben kam. Diesmal jedoch kann ich dir helfen, und wenn es dich uns auch fortnähme.«
Sie strich ihm durchs Haar, das – wie ihres – früh ergraute.
»Aber denke bitte daran, mein Lieber, daß ich dich ungern für immer von uns gehen sähe.«
Rasch kletterte sie hinunter in den Wüstensand und ließ ihn wieder mit dem jüngsten Kind der Sippe allein. Ihr Vertrauen flößte ihm Sicherheit ein; er brauchte sich nicht länger zu fragen, ob es richtig sei, der Heilerin zu folgen, Schlange zu suchen. Es war richtig, weil es sein mußte. Diese Unterstützung schuldete der Klan ihr mindestens. Arevin löste seine Hand aus den feuchtwarmen Fingerchen des Säuglings, schob die Kleine in die Schlinge auf seinem Rücken und stieg von dem Felsklotz hinab in den Sand.
Die Oase schwebte so grün und
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