Traumschlange
Stirn. »Da hast du deinen langen Ritt leider umsonst unternommen. Sie ist nicht hier. Sie wird auch noch für einige Monate fort sein.«
»Aber ich kann sie doch unmöglich überholt haben.«
Thads freundliche Miene der Hilfsbereitschaft wich dem Ausdruck von Besorgnis.
»Du meinst, sie befindet sich bereits auf dem Heimweg? Was ist denn passiert? Ist sie gesund?«
»Als ich sie zuletzt sah, war sie wohlauf«, sagte Arevin. Es stand fest, daß sie lange vor ihm hätte eintreffen müssen, wäre nicht irgend etwas geschehen. Alle erdenklichen Dinge fielen ihm ein, die ihr außer Schlangenbissen zugestoßen sein konnten.
»He, was ist dir?« Thad war an seine Seite geeilt und stützte ihn am Ellbogen. »Fühlst du dich wohl?«
»Ja«, sagte Arevin, aber seine Stimme zitterte.
»Bist du krank? Meine Ausbildung ist noch nicht abgeschlossen, aber die anderen Heiler können dir helfen.«
»Nein, nein, ich bin nicht krank. Aber ich begreife nicht, wieso ich früher hier bin als sie.«
»Warum hat sie denn überhaupt schon jetzt den Rückweg angetreten?«
Arevin richtete seinen Blick auf den jungen Mann, der nun offenkundig nicht weniger beunruhigt war als er selbst.
»Ich glaube, ich sollte ihren Bericht nicht an ihrer Stelle vortragen«, sagte er. »Vielleicht ist es am vernünftigsten, ich spreche mit ihren Eltern. Kannst du mir zeigen, wo sie wohnen?«
»Ich täte es, könnte ich‘s nur«, antwortete Thad. »Bloß hat sie keine. Willst du es nicht mir erzählen? Ich bin ihr Bruder.«
»Ich bedaure, daß ich dir Anlaß zum Kummer gegeben habe. Ich wußte nicht, daß eure Eltern tot sind.«
»Sind sie auch nicht. Das heißt, vielleicht sind sie‘s. Ich weiß es nicht. Ich meine, ich kenne sie nicht. Und auch nicht Schlanges Eltern.»
Arevin empfand restlose Verwirrung. Es hatte ihm nie Schwierigkeiten bereitet zu begreifen, was Schlange zu ihm sagte. Aber er bezweifelte, daß er von dem, was dieser Junge während der vergangenen paar Minuten äußerte, nur die Hälfte verstanden hatte.
»Wenn du nicht weißt, wer deine oder wer Schlanges Eltern sind, wie kannst du dann ihr Bruder sein?« Thad musterte ihn aufmerksam. »Du weißt recht wenig über Heiler, nicht wahr?«
»Ja«, bekannte Arevin und hatte das Gefühl, daß die Unterhaltung eine neue, undurchschaubare Wendung nahm. »Das stimmt. Natürlich haben wir von euch gehört, aber Schlange ist die einzige Heilerin, die jemals bei meinem Klan aufgetaucht ist.«
»Ich frage nur deshalb«, sagte Thad, »weil die meisten Leute wissen, daß wir alle Adoptivlinge sind. Wir haben keine Familien im normalen Sinn. Wir sind allesamt eine Familie.«
»Doch du sagtest, du seist ihr Bruder, in einem Ton, als hätte sie keinen anderen.«
Seine blauen Augen ausgenommen – und selbst deren Blau besaß einen ganz anderen Farbton –‚ sah Thad nämlich nicht im geringsten Schlange ähnlich.
»Wir fühlen wie zwei Geschwister füreinander. Als Kind hatte ich eine Menge Unannehmlichkeiten, und sie hielt stets zu mir.«
»Ich verstehe.« Arevin stieg ab und rückte das Zaumzeug seines Tieres zurecht, während er über die Worte des Jungen nachdachte. »Du bist kein Blutsverwandter Schlanges, aber du fühlst dich mit ihr besonders verbunden. Ist es so richtig be
zeichnet?«
»Ja.« Thads Gemächlichkeit war aus seiner Erscheinung gewichen.
»Wenn ich dir erzähle, warum ich hergekommen bin, wirst du mir dann raten und dabei zuerst an Schlange denken, auch wenn du damit gegen deine Gewohnheiten verstoßen müßtest?«
Arevin war froh, als der Bursche zögerte, denn er hätte sich dazu außerstande gesehen, auf eine unüberlegte, gefühlsbedingte Antwort zu bauen.
»Etwas wirklich Ernstes hat sich zugetragen, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Arevin. »Und sie macht sich Selbstvorwürfe.«
»Du fühlst dich auch besonders mit ihr verbunden, oder?«
»Ja.«
»Und sie ebenso mit dir?«
»Ich glaube, ja.«
»Ich stehe auf ihrer Seite«, sagte Thad. »Immer.«
Arevin schnallte dem Pferd das Zaumzeug ab und legte es ins Gras, um das Tier weiden zu lassen. Er setzte sich unter Thads Obstbaum, und der Bursche ließ sich daneben nieder.
»Ich komme von der anderen Seite der Westwüste«, begann Arevin. »Drüben haben wir keine nützlichen Schlangen, nur Sandnattern, deren Biß den Tod bedeutet...«
Arevin erzählte seine Geschichte und wartete darauf, daß sich Thad dazu äußere, aber der jünge Heiler starrte für lange Zeit nur seine bereits von Narben
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