Traumschlange
leicht. Sie war sehr alt, ihre Gelenke waren geschwollen und entstellt. Ihre Haut war weich, geschmeidig und durchsichtig, an der Stirn und den Wangen von tiefen Falten durchfurcht. Ihre Augen waren blau. Arevin folgte Thads Beispiel und setzte sich auf einen Stuhl. Ihm war dabei ungemütlich; er war es gewohnt, mit überkreuzten Beinen zu sitzen.
»Was wünschst du mit uns zu besprechen?«
»Bist du Schlanges Freundin«, fragte Arevin, »oder nur ihre Lehrerin?«
Er hatte damit gerechnet, daß sie lachen würde, aber sie musterte ihn mit ernsthafter Miene.
»Ihre Freundin.«
»Silber hat sie für ihren Namen vorgeschlagen«, sagte Thad. »Dachtest du, ich würde dich zu irgendwem bringen?«
Trotzdem war sich Arevin noch immer nicht sicher, ob er dieser wohlwollenden Greisin alles erzählen sollte, denn in seinem Gedächtnis hafteten noch deutlich Schlanges Bedenken. Vielleicht war Silber so sehr enttäuscht, daß sie Schlange für immer von den Heilern ausschloß.
»Berichte mir, was Unerfreuliches geschehen ist«, sagte Silber. »Schlange ist meine Freundin, und sie wohnt in meinem Herzen. Vor mir brauchst du keine Furcht zu haben.«
Arevin erzählte die Geschichte zum zweiten Mal an diesem Tag und beobachtete dabei aufmerksam Silbers Miene. Ihr Gesichtsausdruck blieb unverändert. Nach all den Erfahrungen, die sie in ihrem Leben gesammelt haben mußte, vermochte sie den Zwischenfall sicherlich besser zu begreifen als der junge Thad.
»So, so«, sagte Silber schließlich. »Schlange hat die Wüste durchquert.« Sie schüttelte den Kopf. »Mein mutiges, voreiliges Kindchen.«
»Silber«, fragte Thad, »was können wir tun?«
»Ich weiß es nicht, mein Lieber.« Sie seufzte. »Ich wollte, Schlange wäre schon hier.«
»Diese kleinen Schlangen sterben ja gewiß auch einmal«, sagte Arevin. »Bestimmt sind schon dann und wann welche durch Unglücksfälle getötet worden. Was unternehmt ihr dann?«
»Sie leben lange«, sagte Thad. »Manchmal länger als Heiler. Sie vermehren sich sehr schlecht.«
»Mit jedem Jahr bilden wir weniger Heiler aus, weil wir zuwenig Traumschlangen haben«, sagte Silber mit ihrer zittrigen Stimme.
»Schlanges hervorragende Fähigkeiten dürften sie doch zum Erhalt einer neuen Schlange berechtigen«, meinte Arevin.
»Man kann nicht geben, was man nicht hat«, sagte Silber.
»Sind unterdessen keine zur Welt gekommen?«
»Nur einige wenige sind überhaupt jemals ausgeschlüpft«, erwiderte die Greisin bekümmert. Thad schaute zur Seite.
»Vielleicht entschließt sich jemand von uns, die Ausbildung nicht zu beenden...«
»Thad«, sagte Silber, »wir haben ohnehin nicht genug für alle. Glaubst du etwa, Schlange würde die Traumschlange, die sie dir gab, von dir zurückverlangen?«
Thad hob die Schultern und mied noch immer Silbers und Arevins Blicke.
»Sie müßte es nicht verlangen. Ich würde sie ihr auch so – ungefragt – abtreten.«
»Ohne Schlange können wir keine Entscheidung fällen«, sagte Silber. »Sie muß heimkehren.«
Arevin betrachtete seine Hände, sich nun darüber im klaren, daß es in dieser verzwickten Lage keine einfache Lösung gab, keine schlichte Darlegung des Mißgeschicks, keine rasche Vergebung für Schlange.
»Ihr dürft sie nicht für etwas bestrafen, woran mein Klan die Schuld trägt«, sagte er.
Silber schüttelte den Kopf. »Es ist keine Frage der Bestrafung. Aber ohne Traumschlange kann sie keine Heilerin sein. Und ich habe keine Traumschlange für sie.«
Ein ausgedehntes Schweigen folgte. Nach ein paar Minuten fragte sich Arevin, ob Silber womöglich eingeschlafen war; er fuhr auf, als sie plötzlich wieder sprach, ohne ihren Blick vom Fenster zu wenden, durch das sie hinausstarrte.
»Wirst du weiter nach ihr suchen?«
»Ja«, antwortete er, ohne zu zögern.
»Wenn du sie findest, sage ihr bitte, sie soll heimkommen. Der Rat wird sich mit ihr besprechen.«
Thad stand auf, und mit einem heftigen Gefühl des Mißerfolgs und der Bedrücktheit begriff Arevin, daß die Unterredung ein Ende genommen hatte. Sie gingen hinaus, verließen das Gebäude mit seinen sonderbaren Räumlichkeiten, seltsamen Geräten, seltsamen Gerüchen und seinem absonderlichen Licht. Die Sonne sank und verflocht die langen Schatten miteinander.
»Wo soll ich nach ihr suchen?« fragte Arevin unvermittelt.
»Was?«
»Ich bin hergekommen, weil ich glaubte, Schlange sei auf dem Heimweg. Nun habe ich keine Ahnung, wo sie sein könnte. Es ist bald Winter. Wenn die
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