Traumschlange
er würde zu groß und schwer sein, um noch bequem um ihr Handgelenk zu passen.
»Herein!« Brian betrat das Zimmer, doch plötzlich wich er ruckartig zurück. »Keine Sorge«, sagte Schlange. »Sie sind ganz ruhig.«
Brian blieb stehen, hielt die Schlangen jedoch unter aufmerksamer Beobachtung. Wann immer sich Schlange regte, bewegten sich zugleich deren Köpfe; die Kobra und die Klapperschlange züngelten, während sie Brian anstarrten und seinen Geruch wahrnahmen.
»Ich bringe dir die Papiere des Kindes«, sagte Brian. »Sie weisen nun dich als den Vormund aus.«
Schlange nahm die Papiere, die Brian ihr übervorsichtig aushändigte, und betrachtete sie neugierig. Die Urkunde aus Pergament war steif und knittrig, schwer von wächsernen Siegeln. In einer Ecke befand sich die spinnengliedrige Unterschrift des Bürgermeisters, in der anderen Ras‘ Unterschrift, klobig und gleichzeitig zittrig.
»Könnte Ras dies auf irgendeine Weise anfechten?«
»Er könnte es«, antwortete Brian. »Aber ich bezweifle, daß er sich das erlaubt. Wenn er sich darüber beklagt, er hätte unter Druck unterzeichnen müssen, dann muß er auch sagen, was das Druckmittel war, und damit wären noch andere... Druckmittel zu erklären. Ich nehme an, er wird eine freiwillige Niederlage einer öffentlich erzwungenen Verdammung vorziehen.«
»Nun gut.«
»Ich habe hier noch etwas, Heilerin.«
»Ja?«
Er reichte ihr einen kleinen, schweren Beutel. Münzen klirrten im klaren, harten Klang von Gold. Schlange sah Brian verwundert an.
»Deine Entlohnung«, sagte er und streckte ihr eine Quittung und einen Stift zum Unterschreiben entgegen.
»Fürchtet der Bürgermeister noch immer, man könne ihn des Sklavenhandels beschuldigen?«
»Es wäre möglich«, sagte Brian. »Man ist besser auf der Hut.«
Schlange schrieb auf die Quittung: ›Entgegengenommen als Bezahlung für die von meiner Tochter Melissa geleistete Pflege sowie die Abrichtung von Pferden.‹ Darunter setzte sie ihre Unterschrift und gab die Quittung zurück. Brian las bedächtig, was sie geschrieben hatte.
»Ich glaube, so ist es besser«, meinte Schlange. »Gegenüber Melissa ist es nur gerecht, und wenn sie Lohn erhält, kann sie nicht als Leibeigene gelten.«
»Und es beweist noch deutlicher, daß du sie adoptiert hast«, sagte Brian. »Der Bürgermeister dürfte vollauf zufrieden sein.«
Schlange steckte den Beutel mit den Münzen in eine Tasche und brachte Dunst und Sand wieder in ihren Fächern in der Schachtel unter. Sie zuckte die Achseln.
»Von mir aus. Er ist mir gleichgültig. Hauptsache, Melissa kann von hier fort.«
Urplötzlich fühlte sie sich bedrückt, und sie fragte sich, ob sie sich womöglich so unnachgiebig und überheblich an ihren persönlichen Willen geklammert hatte, daß das Leben anderer Menschen in Unordnung geraten war, ohne daß ihnen daraus ein Vorteil gedieh. Sie bezweifelte nicht, daß sie richtig gehandelt hatte, was Melissa anging, zumindest jedoch, indem sie sie Ras fortnahm. Aber ob Gabriel künftig besser dran war... oder der Bürgermeister... oder Ras... Berghausen war eine reiche Gemeinde, und die Mehrzahl der Einwohner machte in der Tat einen glücklichen, zufriedenen Eindruck; sicherlich lebten sie heute in ruhigeren, besseren Verhältnissen als vor zwanzig Jahren, bevor der gegenwärtige Bürgermeister sein Amt antrat. Aber was hatte es den Kindern in seinem eigenen Haus genutzt? Schlange war froh, daß sie endlich weiterziehen konnte, und sie war auch froh, daß Gabriel sich von seinem Elternhaus losgerissen hatte.
»Heilerin?«
»Ja, Brian?«
Von hinten drückte er flüchtig ihre Schulter.
»Danke.«
Als Schlange sich einen Moment später umdrehte, war er bereits lautlos verschwunden. Als sich die Tür ihres Zimmers leise schloß, vernahm Schlange von unten den dumpfen Schlag, mit dem die schwere Haustür zum Hof zufiel. Sie schaute erneut aus dem Fenster.
Drunten bestieg Gabriel seinen großen Schecken. Er blickte hinunter ins Tal, dann wandte er sich langsam zum Fenster seines Vaters. Er starrte lange hinauf. Schlange sah nicht zum anderen Turm hinüber; sie merkte es dem jungen Mann an, daß sein Vater nicht am Fenster erschien. Gabriels Schultern sanken ein, dann straffte er sich wieder, und als er zu Schlanges Turmzimmer herauf schaute, war seine Miene gefaßt. Er sah sie und lächelte ein trauriges, bescheidenes Lächeln. Sie winkte. Er winkte zurück.
Ein paar Minuten später schaute Schlange ihm noch immer
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