Traumschlange
gezeichneten Hände an.
»Also ist ihre Traumschlange tot«, sagte er endlich. Seine Stimme verriet Schrecken und Hoffnungslosigkeit; ihr Tonfall vermittelte Arevin eine Kälteempfindung, die bis in sein nahezu unzugängliches, selbstbeherrschtes Inneres vordrang.
»Es war nicht ihre Schuld«, wiederholte Arevin, obwohl er diese Tatsache schon mehrfach betont hatte. Thad wußte jetzt von der Furcht, die Arevins Volk vor Schlangen verspürte, und auch von dem schrecklichen Tod, der Arevins Schwester ereilt hatte; dennoch erkannte Arevin deutlich, daß Thad das Ereignis nicht richtig begriff.
Der Junge sah ihm ins Gesicht.
»Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll«, erklärte er. »Das ist wahrhaftig eine schlimme Sache.«
Er schwieg, rieb sich die Stirn mit dem Handballen und schaute ratlos umher.
»Ich nehme an, darüber sprechen wir besser mit Silber. Sie war eine von Schlanges Lehrerinnen und ist nun die Älteste.«
Arevin zögerte. »Ist das auch klug? Vergib mir, aber wenn du, Schlanges Freund, nicht recht begreifen kannst, was geschehen ist, werden dann andere Heiler dazu in der Lage sein?«
»Ich begreife durchaus, was geschehen ist.«
»Du weißt, was sich ereignet hat«, sagte Arevin, »aber du verstehst es nicht. Ich möchte dich nicht kränken, aber das ist leider die Wahrheit.«
»Es ist auch gleichgültig«, sagte Thad. »Ich bin nach wie vor bereit, ihr auf jeden Fall zu helfen. Silber wird sich etwas Entsprechendes ausdenken.«
Das ungewöhnliche, hübsche Tal, in dem die Heiler lebten, vereinigte Gebiete uneingeschränkter Wildnis mit Plätzen hochentwickelter Zivilisation. Vom Nordhang des Tals aus erstreckte sich, so weit Arevin sehen konnte, eine Grünzone, die er für unberührten Urwald hielt, steinalt und unveränderlich. Doch gleich unterhalb der riesigen, finsteren alten Bäume kreisten munter die Flügel einer Anzahl von Windmühlen. Die Niederlassung der Heiler war ein friedlicher Ort, eine kleine Ortschaft von fachmännisch errichteten Häusern aus Holz und Stein. Die Bewohner grüßten Thad oder winkten, und Arevin nickten sie zu. Der leichte Wind trug entferntes Geschrei von spielenden Kindern an ihre Ohren.
Thad ließ Arevins Pferd auf eine Weide, dann führte er Arevin zu einem Haus, das etwas größer war als die anderen Gebäude und auch ein wenig abseits stand. Es überraschte Arevin, als er drinnen sah, daß die Wände nicht aus Holz waren, sondern aus glatten, glasierten, weißen Keramikkacheln. Obwohl Fenster fehlten, war es im Innern taghell; weder herrschte das gespenstische blaue Glühen der Biolumineszenz noch der sanfte gelbe Schein von Gaslichtern. Das Haus vermittelte ein Gefühl von Geschäftigkeit, welches sich von der eher trägen Stimmung im Ort selbst unterschied. Durch eine halboffene Tür sah Arevin mehrere junge Leute, noch jünger als Thad, über unverständliche Geräte gebeugt, völlig ihrer Arbeit gewidmet. Thad wies auf diesen Raum.
»Das sind die Laboratorien. Wir schleifen die Linsen für die Mikroskope selbst. Wir machen auch unsere eigenen Glaswaren.«
Fast alle Leute, die Arevin hier erblickte – und nun, da er sich damit befaßte, fiel ihm auf, daß das die Mehrheit aller Einwohner betraf –‚ waren entweder alt oder sehr jung. Die Jungen befinden sich in der Ausbildung, dachte er, und die Alten erteilen ihnen Unterricht. Schlange und die anderen ziehen umher und üben ihre Heilertätigkeit aus.
Thad erstieg eine Treppenflucht, ging voraus durch einen mit Teppichen ausgelegten Gang und klopfte verhalten an eine Tür. Sie mußten einige Augenblicke lang warten, aber Thad war anscheinend daran gewöhnt, denn er zeigte keine Anzeichen von Ungeduld. Schließlich ertönte von drinnen eine freundliche, ziemlich hohe Stimme.
»Herein.«
Der Raum hinter der Tür war weniger kahl und sachlich als die Laboratorien. Seine Wände waren mit Holz getäfelt; und von einem großen Fenster aus konnte man die Windmühlen sehen. Arevin hatte schon von Büchern gehört, aber noch nie welche zu Gesicht bekommen. Hier standen an zwei Wänden Regale, die regelrecht vollgestopft waren mit Büchern. Die alte Heilerin saß in einem Schaukelstuhl
und hatte ein Buch auf dem Schoß liegen.
»Thad«, sagte sie im Tonfall gelinder Neugier und nickte zum Gruß.
»Silber, hier ist ein Freund Schlanges.« Er winkte Arevin herein. »Er hat einen weiten Weg zurückgelegt, um mit uns zu sprechen.«
»Nehmt Platz.«
Sowohl ihre Stimme wie auch ihre Hände zitterten
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