Traumschlange
nach, und schließlich sah sie den langen, schwarzweißen Schweif des Schecken ein letztes Mal wedeln, ehe er um die letzte sichtbare Biegung der Straße nach Norden bog. Unten im Hof klapperten andere Hufe. Schlange lenkte ihre Gedanken auf den eigenen bevorstehenden Ritt. Melissa, die auf Eichhörnchen saß und Wind mitführte, blickte herauf und winkte, daß sie kommen möge. Schlange lächelte und nickte, warf sich die Satteltaschen über die Schultern, nahm die Schlangenschachtel und machte sich auf den Weg hinab zu ihrer Tochter.
9
Der Wind in Arevins Gesicht war kühl und frisch. Er fand das Gebirgsklima angenehm, so wie es war, frei von Staub und Hitze und allgegenwärtigem Sand. Er stand auf einer Paßhöhe neben seinem Pferd und hielt über das Land Ausschau, in dem einst Schlange aufwuchs. Es war ein freundliches Land mit viel Grün, und er sah und hörte große Mengen von Wasser ungebändigt dahinfließen. Ein Fluß wand sich durch jenes Tal, das vor ihm lag, und nur einen Steinwurf weit vom Pfad entfernt, der den Paß überquerte, entsprang eine Quelle und rauschte über moosige Felsen abwärts. Seine Achtung vor Schlange wuchs. Ihr Volk bestand nicht aus Nomaden; diese Menschen lebten hier das ganze Jahr hindurch. Sie mußte so gut wie gar keine Erfahrungen mit ungewöhnlicher Hitze und Trockenheit gehabt haben, als sie sich in die Wüste begab. In dieser Gegend konnte man sich nicht auf die Einöde aus schwarzem Sand vorbereiten. Arevin selbst war nicht völlig auf die Trostlosigkeit des inneren Wüstengebiets eingestellt gewesen.
Seine Karten waren alt; kein lebender Angehöriger seines Klans hatte sie jemals benutzt. Aber immerhin hatten sie ihn wohlbehalten auf die andere Seite der Wüste geleitet, durch eine Kette von Oasen vertrauenswürdiger Art. Doch so spät im Jahr hatte er nirgendwo einen Menschen angetroffen; niemanden, den er nach dem besten Weg fragen, bei dem er sich nach Schlange erkundigen konnte.
Er stieg wieder aufs Pferd und ritt den Pfad hinunter ins Tal der Heiler. Bevor er an irgendwelche Gebäude gelangte, kam er zu einem kleinen Obstgarten. Dieser Garten war von seltsamer Beschaffenheit: Die Bäume, die am weitesten abseits vom Weg standen, waren hochgewachsen und knorrig, wogegen jene unmittelbar am Wegesrand kaum mehr waren als Setzlinge, als habe man viele Jahre lang jedes Jahr nur ein paar Bäume gepflanzt. Ein Jugendlicher von vierzehn oder fünfzehn saß müßig im Schatten und verzehrte eine Frucht. Als Arevin sein Pferd anhielt, hob der junge Bursche den Blick, stand auf und kam herüber. Arevin lenkte sein Pferd über den grasigen Rand der Wiese. Sie begegneten sich unter einer Reihe von Bäumen, die fünf oder sechs Jahre alt sein mochten.
»Hallo«, sagte der Bursche. Er pflückte eine weitere Frucht und bot sie Arevin an. »Möchtest du eine Birne? Die Pfirsiche und Kirschen sind schon alle geerntet, und die Apfelsinen sind noch nicht ganz reif.«
Arevin bemerkte, daß jeder Baum tatsächlich verschiedene Sorten Früchte trug, aber nur eine Art von Blättern. Unentschlossen griff er nach der Birne, während er sich fragte, ob das Erdreich vergiftet sein könne.
»Keine Sorge«, sagte der junge Bursche. »Hier ist nichts radioaktiv. In dieser Gegend gibt es weit und breit keine Krater.«
Unwillkürlich zuckte Arevins Hand zurück. Er hatte kein Wort gesprochen, und trotzdem schien der Jugendliche zu wissen, was er dachte.
»Ich habe den Baum selbst gemacht, und ich verwende nie heiße Mutagene.«
Arevin besaß nicht die leiseste Ahnung, wovon er redete, abgesehen davon, daß er ihm anscheinend versicherte, er könne die Frucht bedenkenlos essen. Er wünschte, er verstünde den Jungen so gut, wie er offenbar ihn verstand. Er wollte nicht unhöflich wirken und nahm die Birne.
»Danke.«
Da der Junge ihn ebenso hoffnungs-wie erwartungsvoll anschaute, biß Arevin hinein. Die Frucht schmeckte süß und herb zugleich und war sehr saftig. Er biß noch einmal ab.
»Schmeckt recht gut«, sagte er. »Ich habe noch nie eine Pflanze gesehen, die vier verschiedene Früchte hervorbringt.«
»Erstes Projekt«, sagte der Bursche. Er winkte nachlässig nach hinten, wo die älteren Bäume standen. »Wir machen alle einen. Reichlich einfache Geschichte, aber es ist längst zur Tradition geworden.«
»Aha«, meinte Arevin.
»Mein Name lautet Thad.«
»Es ist mir eine Ehre, dir zu begegnen«, sagte Arevin. »Ich suche Schlange.«
»Schlange?« Thad runzelte die
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