Traumzeit
Regen, während es draußen langsam dunkel wurde. Seit dem frühen Morgen war sie an der Arbeit und las die Papiere in den Kartons, die Frank Downs von der
Times
hatte bringen lassen. Es handelte sich um eine seltsame Mischung aus Dokumenten, Urkunden, Notizen, Briefen, Rechnungen und Quittungen, alten vergilbten Zeitungen – sogar Tagebücher und ein Schiffslogbuch befanden sich darunter –, und sie gingen bis zum Jahr 1790 zurück. Die Redakteure der
Times
hatten sie gesammelt und katalogisiert, denn Frank plante, ein besonderes Buch zu veröffentlichen, eine Art Album zur Hundertjahrfeier von Australien, die in vier Jahren stattfinden sollte. Er hatte Joanna die Unterlagen zur Verfügung gestellt, nachdem sie ihm von Patrick Lathrops Brief und der Erwähnung eines Schiffes mit einem mythologischen Tiernamen erzählte. »Die Aussies haben Sinn für Mythologie und Geheimnisse«, hatte Frank gesagt. »Die Geschichte Ihrer Familie, meine liebe Joanna, ist ganz bestimmt ein Geheimnis. Wenn Sie unter diesen Dingen etwas entdecken, das Sie auf die Spur von Karra Karra führt, und wenn Sie den Ort schließlich finden, dann wird es bestimmt eine gute Geschichte für die
Times
.«
Joanna dachte, es sei bestimmt mehr als ›eine gute Geschichte‹. Aber sie war für Franks Hilfe dankbar. Es gefiel ihr auch, daß Frank Downs soviel Begeisterung für sein junges Land aufbrachte. »Es ist nur wenigen bewußt, Joanna«, hatte er gesagt, »aber es gibt Australien nur, weil Amerika von England abgefallen ist. Bis 1776 hat England die unerwünschten Verbrecher in die amerikanischen Kolonien geschickt. Als diese Tür geschlossen war, mußte man für den Abschaum einen anderen Platz finden. Australien wurde dazu auserkoren, und jetzt sind wir hier.« Das Buch war Franks persönliches Projekt. Es sollte im Januar 1878 veröffentlicht werden, denn dann feierten die australischen Kolonien ihren hundertsten Geburtstag. Frank hatte erzählt, das Buch werde mit der Entdeckung Australiens durch Kapitän Cook beginnen. Als Joanna fragte, ob den Ureinwohnern wohl bewußt gewesen sei, daß man sie und ihr Land ›entdeckt‹ hatte, sagte Hugh: »Erobert ist wohl das richtigere Wort dafür.«
Joanna dachte an Sarah und überlegte, was sie im Augenblick wohl tun mochte. Vermutlich beobachtete sie Philip McNeal und seine Leute unten am Fluß bei der Arbeit. Joanna war Sarahs wachsende Beschäftigung mit dem Amerikaner nicht entgangen. Sie hielt sich möglichst immer in seiner Nähe auf.
Die Uhr auf dem Kamin schlug sechsmal und erinnerte Joanna an die Zeit. Hugh hatte sich am Vormittag auf den Weg gemacht, um den Transport seines neuen Widders, den er Zeus nennen wollte, zur Farm in die Wege zu leiten. Dann wollte er zu einer Miss Tallhill gehen, der er Joannas Urkunde und eine Textprobe von John Makepeaces Stenographie überlassen hatte. Außerdem wollte er bei einem Edelsteinexperten erfragen, welchen Wert der Feueropal besaß, den Joanna geerbt hatte. Sie rechnete jeden Augenblick mit Hughs Rückkehr, denn sie hatten sich mit Frank Downs im Hotel zum Abendessen verabredet.
Sie blickte noch einmal auf den Brief, den sie gerade gelesen hatte. Er stammte von einer Miss Margo Pelletier aus dem Jahr 1820 . Wie war Frank wohl zu diesem Brief gekommen? überlegte Joanna. Was für eine Frau mochte Miss Pelletier gewesen sein? Weshalb hatte sie England verlassen und war nach Australien gekommen?
Joanna griff nach einem Blatt Papier, auf dem stand:
›An den Generalanwalt George Fletcher Moore, West Australien, 1834 . Ein Bericht über die Lage der Aborigines in der Kolonie.‹
Sie las: ›Die Schwarzen sind eine ungewöhnliche Menschenrasse. Sie besitzen keine Spur von Zivilisation. Sie leben weder in Häusern noch sonstigen Behausungen und beten keinen Gott an. Sie fürchten keine Teufel, verherrlichen Blutbäder, besitzen keine Moral und haben kein Gewissen. Sie pflegen nicht das Land, wie es ein Weißer tun wird.‹
Bei ihrer stundenlangen Arbeit war Joanna noch nicht auf die Erwähnung eines Schiffs mit einem mythologischen Namen gestoßen, nicht einmal auf einen Hinweis, der ihr geholfen hätte, dem Rätsel der Vergangenheit ihrer Familie näherzukommen. Sie hatte gehofft, irgendwo in diesen Papieren werde der rote Berg erwähnt oder sogar ein weißes Ehepaar, das mit seinem Kind bei den Ureinwohnern lebte. Auch das Buch
›Mein Leben unter den Aborigines‹
aus der Buchhandlung in Cameron Town hatte keine brauchbaren Informationen
Weitere Kostenlose Bücher