Traumzeit
seine Gestalt in der Ferne verschwand, wußte die fünfzehnjährige Sarah King plötzlich, was sie tun mußte.
2
Joanna hatte ein seltsames Gefühl, ein Gefühl, das sie nicht kannte. Es ließ sie schon den ganzen Tag nicht los und verhinderte, daß sie sich auf ihre Arbeit unten am Fluß konzentrieren konnte. Sie pflanzte den wertvollen Ingwer. Den ganzen Nachmittag teilte sie die Wurzeln und steckte die Stücke in die feuchte Erde. Ingwer mußte im Frühling gepflanzt werden, damit man ihn im Herbst ernten konnte, wenn die Blätter verwelkt waren. Die Stücke mußten von besonders jungen Wurzeln stammen, die man an der blaßgrünen Farbe erkannte, und sie mußten drei Augen haben wie die Kartoffeln. Da es darauf ankam, daß jedes Stück mindestens drei Augen hatte, war das Schneiden und Pflanzen der Wurzeln eine Aufgabe, die große Behutsamkeit und Aufmerksamkeit erforderte.
Joanna versuchte, ihre Gedanken auf die Arbeit zu richten, aber es wollte ihr nicht gelingen. Ihre Gefühle verwirrten sie: einerseits war sie glücklich und andererseits bekümmert.
Eine Wolke schob sich vor die Sonne. Sie ließ die Hände in den Schoß sinken und hob den Kopf.
Es war ein heißer Septembertag, typisch für den Frühlingsanfang, und sie war im achten Monat schwanger. Ihre Bewegungen waren langsam, schwerfällig, und sie fühlte sich müde. Das Summen und Brummen der Insekten erfüllte die Luft; die Fliegen umschwirrten sie, und die Vögel zwitscherten. Aber auch die Unruhe, die in den letzten Tagen wie ein Schatten auf ihr lag, wich nicht.
Schließlich legte sie das Messer beiseite und lehnte sich zurück.
Joanna wußte, ein Teil ihrer Sorge kam daher, daß morgen der zweite Jahrestag ihrer Ankunft in Australien war. Damals hatte sie an Deck der
Estella
gestanden und gehofft, bereits innerhalb weniger Tage etwas über ihr Erbe, über Karra Karra zu erfahren. Aber nach vierundzwanzig Monaten eingehender Suche – und vielen glücklichen Tagen – glaubte sie, Karra Karra wenig näher zu sein als bei ihrer Abreise aus Indien. Die Namen Bowman’s Creek und Durrebar boten keine Anhaltspunkte und fanden sich auf keiner Landkarte. Hugh und Frank vertraten die Ansicht, daß diese Orte in den dreiundvierzig Jahren, die seit dem Aufenthalt ihrer Großeltern in Australien vergangen waren, andere Namen bekommen hatten. Patrick Lathrop schrieb, es sei ihm bisher nicht gelungen, die Kurzschrift zu entziffern, in der John Makepeace seine Aufzeichnungen geschrieben hatte. Buchanan und Co., die Reederei in London, hatte mitgeteilt, ihre Schiffe
Pegasus
und
Minotaurus
seien erst 1836 gebaut worden – also sechs Jahre, nachdem Joannas Großeltern nach Australien gefahren waren.
Aber Joanna wußte, die erfolglose Suche war nicht der einzige Grund ihrer Unruhe. Da war noch etwas, es saß tiefer, und es hatte ihrer Meinung etwas mit dem Kind zu tun und dem Gift-Gesang.
Sie spürte, wie das Baby sich bewegte. Ob es wohl ihre Unruhe spürte? Seit Joanna wußte, daß sie schwanger war, überschatteten Sorgen und Ängste ihre Freude. Und da der Tag der Entbindung näherrückte, wuchs ihre Furcht. Galt der Gift-Gesang ihrer Familie, und besaß er nach so vielen Jahren immer noch Macht über sie? Joanna dachte an die geheimnisvollen Aufzeichnungen ihres Großvaters, und ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Waren
sie
der Gift-Gesang? Würde der Fluch auf das Kind übergehen?
Joanna lehnte sich gegen einen großen Stein. Die wohlige Wärme, die er abstrahlte, tat ihr gut. Sie griff in den Korb und nahm das Tagebuch ihrer Mutter heraus. Schon das Gefühl, es in den Händen zu halten, war tröstlich und beruhigend. Sie blätterte darin und las: › 23 . Februar, 1848 : Habe Löwenzahnwurzeln gesammelt – Petronius erklärt mir, daß der Name auf die gezackten Blätter zurückgeht.‹ Am 14 . Mai 1850 hatte Lady Emily geschrieben: ›Der alte Jaswaran erweist sich als unerschöpfliche Quelle des Wissens über Heilkunst. Heute hat er mir gezeigt, wie man aus der Süßholzwurzel Augentropfen zubereitet. Sie helfen wunderbar bei Entzündungen.‹ Schließlich sah Joanna einen Eintrag vom 30 . Januar 1871 – drei Monate vor Lady Emilys Tod: ›Ich bete darum, daß Joanna das Gift nicht erben wird.‹
Ein Windstoß trieb ihr aus der Ferne das Blöken der Schafe auf den Weiden zu.
Joanna dachte an Hugh. Er war zu der Weide geritten, wo er die trächtigen Schafe hielt. Zwar hatte er viele Schafe durch das Unwetter verloren, aber es
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