Traumzeit
hatten übereinstimmend erklärt, es sei seine beste Ballade: ›Die Traumzeit‹ –
In diesem wilden Land da Draußen/Wo in den stillen Schluchten die Geister der Schwarzen sich zeigen.
Die Leute sagten, in seinen Gedichten sei das ganze Australien zu finden: die Scherer und Farmer, die Viehtreiber und die Entrechteten, die Emus, die Falken und auch die Regenbogenschlange, deren ›Leib gelb und rot gestreift ist‹, die ›um eine Frau sich ringelt‹, und die ›von Kopf bis zum Schwanz blau ist‹. Hughs Leser spürten, daß er sah, wie die Zeiten sich änderten. Und eines Tages würde man vielleicht dem alten Australien nur noch in seinen Gedichten begegnen.
Die heiße Nachmittagssonne und die schwere Luft machten Joanna müde. Über ihr landete ein blaßgelber Kakadu auf einem Ast. Sie betrachtete die langen Ingwerstengel, die schwertähnlichen Blätter und rosa Blüten im Dunst des kleinen Wasserfalls. Der Wind blätterte die Seiten des Tagebuchs um. Joanna sah einen anderen Eintrag ihrer Mutter, die in ihrer feinen, schwungvollen Handschrift vermerkt hatte: ›Das Kind kam im Morgengrauen auf die Welt. Wir werden unsere Tochter Joanna nennen. Ich bin nicht länger ein Mädchen. Ich bin eine Frau.‹
Als das Tagebuch ihren Händen entglitt, dachte sie noch unbestimmt: Vielleicht ist das der Grund für meine Unruhe. Ich verändere mich. Ergeht es jeder jungen Frau bei ihrem ersten Kind so? Ist das der Übergang von der Jugend zum Erwachsenwerden? Joanna hatte geglaubt, eine Frau geworden zu sein, als sie das erste Mal mit Hugh geschlafen hatte. Vielleicht würde sie auch erst an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag im nächsten Jahr erwachsen sein. Aber jetzt wurde ihr bewußt, die wahre Bestätigung ihrer Weiblichkeit lag in dem Werden eines Kindes.
Sie schloß die Augen und versuchte, die Unruhe abzuschütteln, die sie quälte. Sie legte die Hände auf ihren Leib und spürte die Stöße des Babys. Joanna wollte glücklich sein. Sie wollte nur die Freude und das Glück erleben, die sich einstellen, wenn eine Frau Mutter wird. Aber vielleicht gehörte zu dieser Änderung auch immer eine gewisse Angst. Vielleicht, dachte sie und schlief langsam ein, ist diese Erfahrung, das alte Ich abzustreifen und ein neues anzunehmen, für jede junge Frau erregend und erschreckend. Joanna wünschte, ihre Mutter wäre an ihrer Seite, um sie sicher durch dieses Wunder der Veränderung zu führen und es mit ihr zu teilen.
Dann erinnerte sie sich verschwommen an etwas, das Sarah ihr einmal über die Einweihungsriten der Aborigines erzählte hatte – über Mütter und Tochter und über Traumpfade …, aber sie schlief ein, bevor es ihr wieder einfiel.
3
Sarah lief am Fluß entlang. Sie tat es sehr behutsam, um das Träumen nicht zu stören, an dem sie vorüberkam. Jedesmal, wenn sie einen der heiligen Plätze sah, die sie kannte – das Diamantene Tauben-Träumen, das Goldene Kakadu-Träumen –, sang sie leise als Zeichen ihrer Achtung.
Sie trug in einem kleinen Bündel Ton, Ocker, Buschbeeren und Kakadufedern bei sich. Sie hatte diese Dinge bereits für das Ritual gesammelt, das sie durchführen wollte, wenn Joannas Kind geboren wurde. Sie würde dem Kind dadurch Gesundheit und einen guten Zauber mit auf den Weg geben, und es an das Land seiner Geburt binden. Aber Sarah wollte diese Gegenstände nun für einen anderen Zweck benutzen. Das Bündel enthielt auch Emufett aus dem Kochhaus – sie hatte es entwendet –, ein Kopfband aus Haaren, das sie sich geflochten hatte, und ein Paar Schuhe, die ihr Joanna vor langer Zeit gegeben hatte, die Sarah aber nie trug.
Die Sonne schien ihr ins Gesicht. Sarah ging gleichmäßig und mit großen Schritten. Die Augen richtete sie entschlossen nach vorne und geradeaus. Sie mußte sicher sein, daß alle Gebäude, Schafherden und Menschen weit hinter ihr lagen. Sie mußte einen geschützten Platz finden. Beim Gehen sang sie den Traumpfad der Bärenrobben-Ahne – es war der Traumpfad ihrer Mutter und ihrer Großmütter.
Schließlich erreichte sie eine Stelle am Fluß, die von Bäumen und Felsblöcken geschützt war. Sie lauschte in den Wind und hörte keine Stimmen mehr. Sie drehte sich langsam im Kreis und sah keine Häuser mehr, keine Zäune, keine Reiter. Die Weißen, das wußte Sarah, fürchteten den Zauber der Aborigines. Mr. Simms hatte sie einmal drei Tage eingesperrt und ihr weder zu essen noch zu trinken gegeben, weil sie etwas ›heidnisches‹ getan hatte, wie er es
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