Traumzeit
nannte. Sarah hatte nur den Regen vom Himmel rufen wollen, weil das Getreide der Mission verdorrte.
Sie zog sich langsam aus und legte ihre Sachen ordentlich auf die Erde. Dann öffnete sie das Bündel und nahm jeden Gegenstand einzeln heraus. Sie flüsterte seinen Gesang und legte den Gegenstand dabei ans Ufer: die Ockererde, die Buschbeeren, das Fett, die Federn, das Haarband und die Schuhe. Dann lief sie in den Fluß und wusch sich im kalten Frühlingswasser. Sie legte einen Kreis aus Steinen und entzündete ein kleines Feuer am Ufer. Beim Singen fächelte sie die Flammen und bat die All-Mutter, dem Feuer ihre Kraft zu schenken. Dann begann sie, aus dem Ocker, dem Ton und Buschbeeren rote und schwarze Farbe zu machen. Mit der Asche mischte sie weiße Farbe.
Danach rieb Sarah sich am ganzen Körper mit Emufett ein. Sie rieb es in die Haut, bis sie rotbraun in der untergehenden Sonne glänzte. Dann rieb sie es in die Haare, vermischte es mit der Asche und sang die Gesänge der All-Mutter. Schließlich bestrich sie ihren nackten Körper mit der Farbe.
Zuerst betonte sie die Konturen mit Rot und Schwarz. Dabei rief sie das Buschbeeren-Träumen an, von dem das Schwarz kam, und dann das Flußton-Träumen, denn von ihm stammte das Rot. Sie sang die Macht dieses Träumens in die Formen, die sie auf die Haut malte. Das Weiß trug sie mit einem Stock auf. Sie zog Stricke von den Schultern über die Arme bis zu den Händen. Sie zog Kreise um die Brüste und betupfte den Bauch. Auf die Schenkel zeichnete sie Sterne und Sonnen und die großen Wellen der Meere, auch Symbole für einen Felsenstrand, der weit weg im Süden lag, in der Heimat der Bärenrobbe. Sarah sang ohne Unterlaß, bedachte und prüfte die Farben, die Zeichen und verlieh ihnen Kraft. Sie sang den Traumpfad ihrer Mutter.
Beim Singen war ihr bewußt, daß die Zahl ihrer Gesänge als Folge der abgebrochenen geheimen Einweihung im Missionsdorf begrenzt war. Aber Sarah vertraute darauf, daß sie genug von dem Ritual wußte, um die Kraft auf sich zu lenken.
Als ihr Werk vollendet war, schob sie das Haarband auf den Kopf. Dann setzte sie sich und blickte in die untergehende Sonne.
Sie atmete den Rauch des Feuers ein, den Geruch der verbrannten Känguruh-Gräser, der mit Fett verrührten Asche, der verkohlten Federn – der magische Rauch vereinigte in sich die Geister des mächtigen Känguruhs, des Emus und des Kakadus. Sie rief das Träumen und wiegte sich beim Singen hin und her. Sie schloß die Augen und spürte, wie die Strahlen der Sonne ihren Körper durchbohrten. Vor ihrem inneren Auge sah sie wundersame Farben und Formen. Dann erhob sie sich und tanzte die Wiederholung des langen Pfades der Bärenrobbe von den kalten Gewässern des Südpols bis zu den wärmeren.
Ihr Körper schien sich zu verändern. Sie spürte das weite Meer um sich, sie schmeckte das salzige Wasser, sie sah, wie schimmerndes grünes Sonnenlicht durch den Seetang fiel.
Sarah spürte, wie die Kraft in ihrem Körper anfing zu kreisen. Sie kreiste auf der geheimnisvollen Sonnenbahn durch ihre Adern. Sie sang und tanzte das Träumen ihrer Sippe. Und sie glaubte, durch ihren Gesang und ihren Tanz den Traumpfad fortzusetzen, wie die Mütter es vor ihr getan hatten – jede zu ihrer Zeit.
Sie hätte es nicht allein tun sollen: Das Gesetz ihres Volkes schrieb vor, daß ihre Mutter sie durch die heiligen Riten führte und den Traumpfad an ihre Tochter weitergab. Aber Sarah hatte keine Mutter. Sie war allein.
4
Joanna träumte.
Sie sah den Eingang einer Höhle. Sie war noch sehr klein. Jemand hielt sie auf dem Arm.
Frauen traten in einer feierlichen Prozession aus der Höhle, und die kleine Joanna freute sich, sie zu sehen. Dann sah sie eine weiße Frau. Sie war so schön, während sie mit den anderen sang und tanzte. Die weiße Frau mußte ihre Mutter sein, aber Joanna erkannte sie nicht wieder. Joanna dachte in ihrem Traum: Träume ich den Traum meiner Mutter?
Das Kind im Traum fragte die Frau, auf deren Arm es saß: »Darf ich auch in die Höhle gehen?«
Aber man sagte ihr: »Nein, nur Mädchen, die Frauen werden, dürfen in die Höhle. Und ihre Mütter müssen sie begleiten.«
»Dürfen die Väter auch hinein?« fragte die kleine Joanna.
»Nein, das ist für Väter tabu. Es bringt großes Unglück, wenn sie es tun.«
Und dann sah die kleine Joanna zu ihrem Erstaunen einen Mann hinter den tanzenden Frauen aus der Höhle treten. Und sie rief: »Da ist er! Da ist Papi!«
Und sie
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