Traumzeit
streckte die Arme nach ihm aus.
Und nun veränderte sich der Traum. Der Himmel wurde dunkel. Das Land sah plötzlich unheimlich aus. Die Menschen wurden zornig. Sie verfolgten den Mann, der aus der Höhle gekommen war. Plötzlich sah Joanna viele Hunde. Sie lief auf den Mann zu, den sie für ihren Vater hielt, den sie aber nicht erkannte. Könnte es mein Großvater sein? fragte sich Joanna im Traum. Sie hatte schreckliche Angst, denn die Hunde kamen näher, immer näher.
Der Mann schien die Arme nach ihr auszustrecken. Sie wollte zu ihm, aber sie sah plötzlich, daß seine Gestalt sich veränderte. Er wurde groß, immer größer und sank zu Boden. Sein Leib schien über den roten Sand zu gleiten. Er glitt in den fahlen Schatten, und plötzlich sah Joanna, daß er sich in eine riesige Schlange in Regenbogenfarben verwandelt hatte.
Joanna wollte schreien, aber sie hatte keine Stimme. Sie wollte davonlaufen, aber ihre Füße bewegten sich nicht. Die Schlange kroch langsam auf sie zu, und plötzlich stellte sich ihre Mutter, Lady Emily, schützend vor sie. Joanna war vor Angst wie erstarrt und sah, wie die riesige Schlange näher, immer näher kam. Das Ungeheuer hatte nur ein Auge, das sich böse funkelnd auf sie richtete.
Die Meute der geifernden Hunde hatte Lady Emily erreicht. Sie griffen an und sprangen, aber in diesem Augenblick öffnete die Schlange das riesige Maul, und sie verschlang Lady Emily mit Haut und Haaren.
Joanna sah ihre Mutter in der Schlange verschwinden und schrie aus Leibeskräften. Plötzlich war die Schlange über ihr. Sie ringelte sich um ihre Hüfte und begann, sie zu erdrücken. Ein unerträglicher, stechender Schmerz durchzuckte sie.
Joanna wachte plötzlich auf. Sie lag regungslos am Boden. Die Nacht war angebrochen. Das Wasser im Fluß war schwarz. Sie lag in der Dunkelheit der Bäume und befand sich noch im Bann des schrecklichen Traums. Deshalb spürte sie die stechenden Schmerzen in ihrem Leib kaum. Sie dachte nur benommen, wie seltsam dieser Traum gewesen war. Hatte sie wirklich den Traum ihrer Mutter geträumt? Sie versuchte, sich noch einmal in allen Einzelheiten daran zu erinnern. Joanna kannte die lebenslange Angst ihrer Mutter vor Hunden und erwog die Möglichkeit, daß der Traum vielleicht die Erinnerung an ein Geschehen war, das sie einst erlebt hatte. Vielleicht gab es einen Zusammenhang zwischen dem Gift-Gesang und den wilden Hunden. War das der Fluch, der auf den Makepeaces und auf ihren Nachkommen lag? Ein Fluch, bei dem wilde Hunde eine tödliche Rolle spielten?
Plötzlich tauchte eine andere Erinnerung auf: Vor zwei Jahren war Joanna Aborigines auf der Straße in der Nähe des Lagers am Emu Creek begegnet. Eine der alten Frauen hatte ihr geweissagt: »Ich sehe den Schatten eines Hundes. Er folgt Ihnen.« Joanna hatte damals geglaubt, die Frau spreche von der Vergangenheit, während Hugh meinte, sie habe ihr die Zukunft vorausgesagt. Bedeutete der Fluch einen unnatürlichen Tod durch Hunde – seien es nun imaginäre oder wirkliche?
Aber warum, warum …? Joanna stellte die stummen Fragen dem dunklen Fluß. Was hatten ihre Großeltern getan, um auf sich und ihre Nachkommen eine so schreckliche Strafe zu ziehen? Lady Emily hatte in ihrem Tagebuch einen Traum beschrieben, in dem sie sah, wie ihr Vater aus einer Höhle kam. Hatte sich das wirklich ereignet? An einer anderen Stelle schrieb sie: ›Etwas ist vergraben, und ich muß es wieder ausgraben. Ich fühle mich getrieben, nach Karra Karra zurückzukehren und mein Erbe anzutreten.‹ Was war das für ein Erbe? Was hatte das alles zu bedeuten?
Joanna blickte sich langsam in der Dunkelheit um und spürte die Kraft der Aborigines an diesem Ort. Die Ureinwohner mochten nicht mehr hier sein, aber ihre Gegenwart, ihr Geist, ihre Kraft und ihre Leidenschaften waren noch immer spürbar. Joanna verstand jetzt das Wesen ihrer Unruhe, die ihre Schwangerschaft überschattet hatte. Im Innersten fürchtete sie das Mutter-Tochter-Vermächtnis der Angst. Der Gift-Gesang – mochte er nur eingebildet sein oder nicht – würde irgendwie auf das Ungeborene übertragen werden.
Joanna wollte aufstehen, aber plötzlich spürte sie einen heftigen Schmerz um die Hüfte.
Die Regenbogenschlange erdrückte sie.
Nein, dachte Joanna erschrocken und sank wieder zu Boden. Nein, es ist das Kind. Es kommt zu früh!
5
Sarah badete im Fluß. Sie wusch die heiligen Symbole und das Emufett ab. Sie gab dem Fluß ihre Kraft und sah, wie das
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