Traumzeit
Knopf. Ezekial kniff die Augen zusammen und blickte prüfend in den Wald hinter ihr.
»Hier«, sagte Lisa und reichte ihm den Rest der Schokolade. »Schokolade schmeckt unheimlich gut. Danke.«
Der alte Mann blickte schweigend auf den ausgestreckten Arm und das strahlende Lächeln. Dann wanderten seine Augen wieder über sie hinweg zu den Schatten, die sich am Fuß der Bäume gebildet hatten. Er schloß die Augen und spürte etwas, das er schon einmal, vor vielen Jahren gespürt hatte, als er an dieser Stelle der Mutter des Mädchens begegnet war. Er öffnete die Augen und sah, daß der Schatten immer noch da war – der Schatten eines Hundes.
»Was ist, Ezekial?« fragte Lisa, als der alte Mann ihr die Schokolade nicht aus der Hand nahm.
Ezekial blickte über seine Schulter nach hinten und dachte an die beiden Dingos, die er vor ein paar Tagen nur wenige Meilen von hier gesehen hatte. Es waren ein halbverhungerter Rüde und eine Hündin, denen die Rippen hervorstanden – keine zahmen Dingos, wie man sie in den Lagern der Ureinwohner fand, sondern gefährliche wilde Hunde.
Er legte die Stirn in Falten. Er mußte nachdenken. Seit die Weißen gekommen waren, hatte sich alles verändert. Die Traumpfade, die heiligen Plätze der Traumzeit. Es war inzwischen schwierig, durch das Land zu streifen, denn zu viele Zeichen waren verschwunden. Das Eukalyptuswäldchen, wo der Emu-Ahne auf seinem Nest gesessen hatte, gab es nicht mehr. Wie sollte der Schwarze Mann die in der Traumzeit geschaffene Welt erhalten, wenn er nicht länger umherziehen konnte?
Und so hatten Ezekial und andere wie er gedacht: Das ist das Ende der Welt, das Ende des Träumens.
Aber während er jetzt das kleine Mädchen ansah und an seine Mutter dachte, zu der die Känguruh-Ahne gesprochen hatte, kam dem alten Mann langsam ein anderer Gedanke. Über Monate hinweg hatte er beobachtet, wie das neue Haus am Fluß entstanden und Teil des Waldes geworden war. Und er hatte nicht gewußt, was er davon halten sollte. Aber nun fragte er sich: Ist das vielleicht nicht das Ende der Welt, sondern nur der Anfang eines neuen Träumens? Nachdem er diesen Gedanken in seinem Kopf gefunden hatte, sah er sich mit anderen Augen um und entdeckte plötzlich neue Traumpfade, neue heilige Plätze, die einem neuen Volk gehörten. Und hier stand dieses kleine Mädchen. Es stand am Anfang von allem, so wie die Ahnen einmal am Anfang gestanden hatten, und er fragte sich, ob sie das ebenfalls zu einer Ahne machte.
Der alte Ezekial trug Kleider, wie man sie ihm vor langer Zeit, als seine Sippe auseinandergebrochen war, im Missionsdorf gegeben hatte: Hemd und Hose. Doch unter diesen fremdländischen Kleidern trug er immer noch, was er getragen hätte, wenn die Weißen nie gekommen wären – einen geflochtenen Haargürtel um die Hüfte und einen kleinen Beutel aus Opossumfell, in dem sich sein wertvollster Besitz befand. In alter Zeit hatten Männer in einem solchen Beutel scharfkantige Steine getragen, ein Stück Schnur, eine Speerspitze, manchmal auch einen Klumpen Bienenwachs, einen Haken zum Fischen und einen Feuerstein. Nun befanden sich darin Streichhölzer und Tabak, ein kleines Messer, Schnürsenkel und, wenn sie Glück hatten, ein paar Münzen.
Der alte Mann griff in sein Hemd und kramte in dem darunter verborgenen Beutel. Dann hielt er Lisa die Hand entgegen und sagte: »Das ist für dich.«
Lisa betrachtete den merkwürdigen Gegenstand auf seinem Handteller. Es dauerte einen Augenblick, bis sie erkannte, daß es sich um den Zahn eines Tieres handelte. »Du meine Güte«, sagte sie, »was ist denn das?«
»Ein Zahn von einem Dingo«, erwiderte Ezekial. »Er ist sehr alt und in ihm lebt ein sehr starker Zauber. Ich geb’ ihn dir.«
»Der ist für mich?« sagte sie. »Aber warum?«
Ezekial wollte sie nicht erschrecken, indem er ihr die Wahrheit sagte. Er hatte gesehen, daß das kleine Mädchen sich in Gefahr befand und Schutz brauchte. Deshalb erwiderte er lächelnd: »Es ist ein Talisman und bringt Glück. Das kleine Mädchen von Merinda ist immer freundlich zum alten Ezekial. Jetzt mache ich dir ein Geschenk. Dann bist du in Sicherheit.«
»Du meine Güte«, sagte Lisa noch einmal, als sie den Zahn an sich nahm.
»Danke, Ezekial.«
»Trag ihn immer bei dir«, sagte er, »in ihm lebt ein sehr starker Zauber.«
2
Plötzlich fiel Sarah ein Lied der Ureinwohner ein.
Ich steige auf den hohen Felsen.
Ich blicke hinunter,
Ich blicke hinunter,
Und ich sehe
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