Traumzeit
rot vom Weinen. Frank hatte auf der Rückfahrt von der Brücke seinen Auftritt immer wieder geprobt. Jetzt zog er den Hut und hörte sich sagen: »Heirate mich, Ivy.«
Kapitel Zweiundzwanzig
1
Plötzlich rief jemand laut in der Wollkammer: »Gänse auf dem See!« Damit kündigte der Wollpresser den Scherern an, daß eine Frau den Schuppen betreten hatte. Der Aufseher hörte das rufen, gab die Neuigkeit weiter und schrie dann über den Lärm hinweg: »Aufgepaßt, Jungs! Die Gänse sind gelandet!«
Die Warnung war nicht als Beleidigung der Besucherin gedacht, sondern sollte die Scherer ermahnen, in Anwesenheit einer Dame die Zunge im Zaum zu halten und die Augen bei der Arbeit zu lassen, um die Schafe oder sich selbst nicht zu verletzen. Bei der ›Dame‹ handelte es sich diesmal um die siebenjährige Lisa, der es sehr gefiel, wenn sie wie eine Erwachsene behandelt wurde. Wenn sie in den Scherschuppen kam, zogen die Männer, die die Hände frei hatten, die Mütze; und ihr zuliebe machten plötzlich nur fröhliche Hänseleien die Runde.
Im Schuppen herrschte ein geradezu ohrenbetäubender Lärm. Die Scheren klapperten, Hunde bellten, Männer schrien und Schafe blökten. Die zwölf Scherer beugten sich unter die Tiere und bewegten mit höchster Konzentration die gefährlich scharfen Werkzeuge unter dem Fell vorwärts. Sie schälten die Wolle sozusagen von den sich windenden Schafen oder Widdern. Die Helfer rannten durch die Schuppen, zogen den Scherern die schwere Wolle blitzschnell unter den Beinen weg und trugen sie zum Rolltisch, während die Scherer schrien: »Los, Wolle weg!« oder »Schwing den Besen, Kleiner!« Draußen trieben Treiber die ungeschorenen, verängstigten Schafe in Pferche, um sie jederzeit für das Scheren bereit zu haben.
Lisa liebte die Schur. Es war eine aufregendere Zeit als Weihnachten, und sie dauerte länger. Sie mochte den Dottergeruch der frisch geschorenen Wolle und das Gelächter der Männer, die sich mit den Schafen abmühten und sie trotz heftiger Gegenwehr von der Wolle befreiten. Am meisten mochte Lisa jedoch die Scherer.
Sie sah in ihnen Helden und Abenteurer, ein verwegener Trupp, der sie an die Männer in den Abenteuergeschichten erinnerte, die sie las. Sie waren wie Piraten, dachte Lisa, oder Räuber oder Ritter auf ihren Rössern. Lisa hatte von ihrem Vater alles über Scherer erfahren, denn er war vor langer Zeit selbst einmal einer gewesen. In Australien fand jedes Jahr zu Beginn des Winters ein Massenexodus von Männern aus allen Städten der Kolonien statt. Die Männer schnürten ihr Bündel, küßten ihre Frau oder ihre Liebste zum Abschied und machten sich auf den ›Känguruh-Weg‹. Sie blieben monatelang weg, zogen von einer Farm zur anderen, folgten der Arbeit und kamen dabei durch Orte mit so exotischen Namen wie Cunnamulla, Alice Downs oder One Tree Plain. Nach Hughs Meinung war es für einen jungen Mann, der keine Wurzeln besaß, ein herrliches Leben. Ein Scherer zog zu Pferd oder zu Fuß ins Ungewisse und konnte nie sicher sein, Arbeit zu finden; er schlief unter den Sternen, trank Tee aus dem Kessel und fand Wohlbehagen in der Gesellschaft von Kameraden. Es war ein komischer Haufen. Lisa dachte immer, so etwas wie die Scherer auf dem Känguruh-Weg konnte es nirgendwo sonst auf der Welt geben. Die Männer hatten kräftige, muskulöse Körper; derbe Redensarten und ein rauher Ton gehörten zu ihrem Alltag. Aber das Lanolin in der Wolle machte ihre Hände weicher als die eines Babys. Außerdem hielten die Scherer wie Pech und Schwefel zusammen. Sie waren eine verschworene Gemeinschaft, hatte Hugh seiner Tochter gesagt, denn man mußte ein ungewöhnlicher und besonderer Typ sein, um bei dieser Arbeit zu bleiben. Das Leben eines Scherers machte jedem Mann den Rücken krumm, es zerstörte seine Ehe und bestrafte ihn mit Krankheiten, Verletzungen und harter Arbeit in Schuppen, in denen die Temperatur auf fünfzig Grad stieg. Es war ein gefährlicher Beruf, bei dem immer Gefahr bestand, von einem Huf getreten oder verletzt zu werden oder sich mit der Schere die Finger abzuschneiden. Wenn nach einem unendlich anstrengenden Tag die Teeglocke läutete, war ein Scherer von Kopf bis Fuß mit Schweiß, Blut, Urin und Kot beschmiert. Am Ende der Saison setzten sich die Männer in das nächste Wirtshaus und begannen zu saufen. Drei Tage später wachten sie mit schwerem Kopf auf, ohne sich an das Saufgelage zu erinnern. Dann machten sie sich auf den langen ermüdenden Weg
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