Traumzeit
nach Hause zu Frau und Kindern und schworen bei allem, was ihnen heilig war, das sei für sie endgültig die letzte Saison gewesen. Aber im nächsten Jahr lockte es sie wieder hinaus, wenn die anderen auf dem Känguruh-Weg zu den Schafherden zogen.
Lisas Vater hatte eine Ballade mit dem Titel ›Emu Creek‹ über die Scherer geschrieben. Es war ein langes Gedicht über Männer auf der Wanderschaft – sie hatten Namen wie Buckliger Mick und Lachender Jack –, über die Farmen von Gundagai bis Moulamein, auf denen sie geschoren hatten, und über die Härten und Abenteuer, die sie an Orten erlitten, die Broken River oder Winding Swamp hießen. Es war ein Gedicht über ihre Kameradschaft und ihre Opfer und über die Bräute mit Namen wie Mary, Jane und Lizzie, die sie zurückgelassen hatten. Die Ballade war als eine der ersten Arbeiten ihres Vaters unter seinem wirklichen Namen veröffentlicht worden, und das machte Lisa sehr stolz.
Die Siebenjährige liebte die Scherer, sie liebte das Leben der Scherer, und wenn sie groß war, würde sie ein Scherer werden.
»Na, kleines Fräulein«, sagte einer der Männer mit dem Spitznamen Stinky Lazarus und kam mit großen Schritten auf Lisa zu, die aufgeregt in der Türöffnung stand. »Was kann ich für dich tun?«
»Oh, Stinky!« rief sie. »Es ist hier einfach wunderbar!«
Mit einem Blick auf die erschöpften Männer, denen der Schweiß über die Gesichter rann, und auf die blökenden, pissenden Schafe sagte er trocken: »Ja, ich glaube, du hast recht, es ist wirklich wunderbar.«
Lisa steckte die Hände in die Tasche ihres Kleids und seufzte. Sie war ein wildes Mädchen mit langen Zöpfen und einem meist dreckverschmierten Gesicht; sie lief immer barfuß. Wenn Stinky an Lisa Westbrook dachte, konnte er nur den Kopf schütteln. Während der Schur trieb sie sich so oft wie möglich im Schuppen herum. Ansonsten konnte man sie mit Knopf, dem alten Schäferhund, im Schlepptau auf ihrem Pony in der näheren Umgebung der Farmgebäude sehen. Ihr Bruder Adam dagegen interessierte sich mehr für die Pflanzen, die am Fluß wuchsen.
Lisa verehrte Stinky Lazarus. Er kam Jahr für Jahr mit seinem Trupp Scherer, hatte eine Menge lustiger Geschichten parat und offenbar immer Zeit für Lisa. »Man nennt mich Stinky«, hatte er ihr einmal erzählt, »weil es in der Bibel heißt, daß Lazarus zum Himmel stank.« Es gab übrigens kaum einen Scherer ohne Spitznamen. Stinky hatte in der Küche der Scherer ein Schild angebracht, auf dem stand: SCHERER MÜS - SEN ALLE ZWÖLF MONATE BADEN , GANZ GLEICH OB ES NÖTIG IST ODER NICHT .
Stinky erzählte wundervolle Geschichten. Etwa die über einen Scherer, der Old Turnip, also Alte Rübe hieß. Eines Tages hatte Old Turnip keine Lust zu arbeiten. Scherer schoren niemals nasse Schafe, denn es hieß, das sei für die Männer und für die Tiere zu gefährlich. Also sagte Old Turnip, der sich vor dem Scheren drücken wollte, dem Farmer, die Schafe seien naß. Er hoffte nämlich, der Mann werde ihm den Tag frei geben. Der Farmer war ein schlauer Kopf und sagte: »Na gut, Alte Rübe, aber die Lämmer mußt du trotzdem scheren. Sie sind kleiner und werden schneller trocken.« Old Turnip war jedoch noch schlauer und erwiderte: »Nein, guter Mann. Lämmer sind nicht schneller trocken. Sie sind kleiner und deshalb weiter weg von der Sonne!«
»Wenn ich groß bin, werde ich auch Scherer«, erklärte Lisa und hatte das Gefühl, vor kribbelnder Aufregung zu platzen.
»Du kannst kein Scherer werden, kleines Fräulein«, sagte Stinky lachend.
»Warum nicht?«
»Weil Mädchen keine Scherer sein können, darum. Du wirst kochen lernen und nähen und solche Sachen.«
Lisa reckte das Kinn. »Das habe ich alles schnell gelernt. Aber ich werde auch ein Scherer wie mein Papi, als er noch jung war. Und ich werde ein Treiber sein, der das Land abreitet und die Zäune repariert, so wie er.«
Stinky lachte und schob den Hut etwas weiter aus der Stirn. Für Oktober war es ein ziemlich warmer Tag. Im westlichen Distrikt herrschte immer noch Trockenheit, und es sah aus, als gebe es wieder einen heißen Sommer. »Und was wird dein Mann dazu sagen? Meinst du, er ist damit einverstanden?« fragte Stinky grinsend.
»Ich heirate nicht.«
»Und wenn du dich verliebst?«
»Ich verliebe mich nicht. Ich mag keine Jungen. Zumindest nicht so wie du es meinst. Ich bekomme Merinda, und dann kann ich machen, was ich will.«
Stinky zog die Brauen hoch. »So, so, du bekommst
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