Traumzeit
Eingeborene, verschwand in der Wüste und ließ seine weiße Frau und sein Kind im Stich.« Nachdem Joanna noch mehrere andere Greuelmärchen gehört hatte, kam sie zu dem Schluß, daß man in Perth die wahre Geschichte des Ehepaars Makepeace nicht kannte. Die Legende von dem ›Weißen, der den Garten Eden suchte‹, gehörte in die Reihe der vielen anderen Märchen und Legenden über die farbige Geschichte Westaustraliens.
Am dritten Tag ihrer Suche erfuhr Joanna jedoch zwei Dinge: Wenn sie die Sippe finden wollte, die früher in der Gegend von Perth gelebt hatte, mußte sie ungefähr in Richtung der Bahnlinie weiter östlich suchen. Die Bahn folgte nämlich dem alten Weg, auf dem die Sippe bei ihren Wanderungen gezogen war. Außerdem mußte sie unbedingt Kommissar Fox sprechen, denn er wußte ›alles über die Gegend, was es zu wissen gibt‹. Fox hielt sich zur Zeit auf einer seiner halbjährlichen Dienstreisen ins Landesinnere in Kalagandra auf.
Deshalb waren sie nun auf dem Weg in die Goldgräberstadt. Eric Graham machte sich Notizen und starrte hin und wieder mit leerem Blick vor sich hin. Zweifellos beschäftigte er sich mit seinem Bericht für die Zeitung. Lisa saß neben ihm, und man sah ihr die Aufregung an den Augen und den geröteten Wangen an. Neben ihr auf der Holzbank döste Kapitän Fielding vor sich hin. Joanna saß ihrer Tochter gegenüber in Fahrtrichtung. Sie beobachtete, wie die Küstenwälder langsam fruchtbarem Farmland wichen, das schließlich der Wüste Platz machte. Lautes Stimmengewirr umgab sie. Der Zug war voller Männer – hoffnungsvolle Goldgräber mit ihren Kleiderbündeln, Schaufeln und Pickeln, die auf den Goldfeldern reich werden wollten. Alles war staubig und verrußt. Der pingelige Eric Graham klopfte ständig Jacke und Hose ab, und wenn er ab und zu seine brandneue Melone abnahm, runzelte er die Stirn über die schwarzen Rußflocken, die daran hingen. Joannas Hut lag in der braunen Papiertüte, die Damen von der Eisenbahngesellschaft zur Verfügung gestellt wurde, im Gepäcknetz.
Kalagandra lag dreihundertfünfzig Meilen landeinwärts. Joanna war mit ihrer Gruppe am Abend zuvor von Perth aufgebrochen. Sie hatten im Sitzen geschlafen, während der Zug schnaubend und ratternd durch die Nacht fuhr. Nun war es beinahe Mittag, und das Ziel war nicht mehr weit, denn die Goldfelder lagen unmittelbar vor ihnen. Die Bahnlinie endete in Kalagandra. Dahinter, so hatte man Joanna gesagt, gab es nichts außer Buschland und Känguruhs.
»Glaubst du, da draußen in der Wildnis gibt es Pfade, Mutter?« hatte Lisa gefragt, und als Joanna aus dem Wagen blickte und versuchte, trotz der schwarzen Rauchschwaden der Lokomotive etwas zu sehen, stellte sie sich den Weg – einen Traumpfad? – in der nackten, kahlen Wildnis vor, dem Reena und Emily, das kleine englische Mädchen, möglicherweise gefolgt waren, während sie sich durch die gefährliche Wüste zum rettenden Fluß an der Küste, zu den schwarzen Schwänen mit ihren anmutig gebogenen Hälsen durchschlugen. Eine Frau und ein kleines Kind, dachte Joanna, ganz allein dort draußen, wo die Sonne unbarmherzig auf wasserloses Land herabbrannte, auf eine eintönige sandfarbene Landschaft mit vereinzelten Akazien und dürrem Buschwerk …
Joanna blickte auf Lisa. Zum ersten Mal fielen ihr die Grübchen ihrer Tochter auf. Es waren ungewöhnliche Grübchen, hoch oben in den Wangen und dicht unter den Augen. Joanna erinnerte sich, daß ihre Mutter die gleichen Grübchen gehabt hatte, und sie erinnerte sich an die Bemerkungen der Leute über Lady Emilys unwiderstehliches Lächeln. Während sie ihre Tochter beobachtete, kam es Joanna beinahe vor, als mache Lady Emily die Reise doch noch zusammen mit ihr.
Sie dachte an eine Stelle in den Aufzeichnungen ihres Großvaters. Dort berichtete er, daß das wichtigste Ritual der Sippe im Innern des heiligen Berges stattfand und die Mütter regelmäßig mit ihren Töchtern dorthin ›pilgerten‹.
Treibt mich dieses Ritual vorwärts? dachte sie. War das Motiv ihrer Suche vielleicht nicht nur die Sorge um ihre Tochter und die Zukunft? Standen sie und Lisa vielleicht unter einer Art Zwang, der ihnen vor langer Zeit von einem uralten Volk und seinen Glaubensvorstellungen auferlegt worden war? Und war diese Reise in Wirklichkeit nicht nur ein von der Angst diktiertes Unterfangen, wie Joanna immer geglaubt hatte? Wurde sie auch von positiven Kräften dazu gedrängt?
Joanna dachte plötzlich: Es ist, als
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