Traumzeit
seien Lisa und ich auf dem Weg, eine wichtige Aufgabe zu beenden.
Sie wußte, der Zeitpunkt würde kommen, wenn sie Lisa die Wahrheit sagen mußte, ihr sagen mußte, aus welchem Grund sie wirklich hierher gekommen waren. Joanna schloß die Augen, und der Zug schien zu flüstern:
Es eilt, es eilt, es eilt
…
2
Der Zug fuhr fauchend und mit laut quietschenden Bremsen in den Bahnhof ein. Die ersten Männer sprangen bereits ab, ehe er anhielt. Die vier versammelten sich inmitten von lauten Rufen und Schreien und hastenden Menschen auf dem Bahnsteig.
Joanna blickte sich im rauchigen Nachmittagsdunst um. Kalagandra schien in einer feindseligen, trockenen Gegend zu liegen. Westlich der Stadt gab es ein paar Farmen mit Getreidefeldern, im Osten lag die Große Wüste. Soweit das Auge reichte, waren Bäume gefällt worden. Vor ihr erstreckte sich meilenweit eine sandige Ebene, wie eine pockennarbige Mondlandschaft mit Hunderten von Löchern. Die Erde war aufgewühlt wie nach einer Invasion von Maulwürfen. Überall in den Löchern sah Joanna immer wieder kurz die Köpfe von Männern auftauchen. Sie hörte das helle Klingen von Pickeln auf Stein, das Poltern der Steine in den Schwingtrögen und das ständige Pochen der mit Dampf getriebenen Quarz-Zerkleinerer.
So viele Menschen! Zahllose Bretterbuden und Zelte umgaben die Goldfelder. Die hastig und roh gezimmerten Behausungen boten den vielen tausend Männern Obdach, die mit Schaufeln über der Schulter in den Distrikt gezogen waren. Die Blockhütten-Saloons, die Freilichttheater mit Zeltplanwänden, die provisorischen Kegelbahnen und Boxringe, die Gin-Verkäufer, die einfach ein Brett über zwei Fässer gelegt hatten, und die Frauen, die lockend in offenen Türen standen – all das sprach unmißverständlich von hektischem Wohlstand. Joanna schätzte, daß es mehrere tausend Zelte gab, über denen die Flaggen aller Nationen wehten – über einer halb zerfallenen Hütte entdeckte sie sogar den russischen Doppeladler mit den aufgerissenen Schnäbeln.
Die Stadt selbst war ebenfalls roh und unfertig, eine Ansammlung von Geschäften mit Holzfassaden, hastig errichteten Steingebäuden und hölzernen Gehwegen, deren Planken knarrten.
»Ich kann mich an eine andere Zeit erinnern, in der das Goldfieber ausbrach«, sagte Kapitän Fielding auf dem Weg zum Hotel. »Das war 1850 . Wenn man durch den Hafen von Melbourne ging, konnte man an den Kais Schiffe sehen, die vollbeladen waren mit Passagieren nach San Francisco. Kurze Zeit später entdeckte man Gold in Victoria, und der große Exodus nach Kalifornien war natürlich schlagartig zu Ende.«
»Den Leuten hier scheint es gut zu gehen«, Joanna betrachtete die Schaufenster. Dort lagen alle möglichen Dinge, von Arbeitsstiefeln bis zu massiv goldenen Uhren.
»Ja, aber wer hier sein Vermögen macht, ist nicht hier geboren worden«, sagte Fielding. »Bis vor einem Jahr hatten diese Leute nicht einmal etwas von Kalagandra gehört. Sie kommen aus ganz Australien, ja sogar aus der ganzen Welt. Sie werden reich, und dann gehen sie wieder. Und wenn es hier kein Gold mehr gibt, wird die Stadt sterben.«
»Wo sind die Aborigines?« fragte Joanna.
»Ich bin sicher, sie sind hier irgendwo in der Nähe. Ich nehme an, sie sind an der Stadtgrenze, ganz am Rand, sozusagen. Das Land hat früher ihnen gehört – die ganze Gegend hieß
galagandra,
das ist der Name eines häufig vorkommenden Strauchs. Aber sie leben nicht in der Stadt und haben keinen Nutzen von dem Reichtum.«
Sie erreichten das Golden Age Hotel und mußten am Empfang warten, während der Angestellte alle Mühe hatte, Leute abzuweisen, die Zimmer suchten, obwohl draußen ein Schild ›Belegt‹ hing. Joanna sah sich in der überfüllten Halle um. Leute schliefen in Sesseln oder lagen auf Sofas.
Sie bekam schließlich ihre Zimmerschlüssel und ging mit Lisa nach oben, die unbedingt sofort ihrem Vater, Sarah und Adam Briefe schreiben wollte. Nachdem Joanna sicher sein konnte, daß ihre Tochter zufrieden und versorgt war, traf sie sich mit Kapitän Fielding in der Hotelhalle. Eric Graham war bereits unterwegs zur nächsten Zeitungsredaktion. Er wollte feststellen, ob er etwas über das Ehepaar Makepeace herausfinden konnte. Joanna und der Kapitän gingen in die Polizeiwache auf der anderen Straßenseite und fragten nach Kommissar Fox.
Einen Augenblick später trat ein Mann aus dem dahinterliegenden Büro. »Mrs. Westbrook? Ich bin Paul Fox, der Polizeikommissar in
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