Traumzeit
schönen Frau benannt?«
Er sah Joanna an und stellte fest, daß ihre bernsteinfarbenen Augen im Sonnenlicht zu einem dunklen Honiggelb wurden. Ihn durchzuckte der Gedanke, daß die schöne Frau jetzt hier war. »Das weiß niemand«, antwortete er. »Es gibt natürlich Geschichten darüber. Es heißt, daß vor langer, langer Zeit, vielleicht in der Traumzeit, hier eine junge Frau namens Merinda lebte. Sie war eine Frau der Gesänge, das heißt, sie hütete alle Gesänge und Traumpfade ihrer Sippe. Jeder in der Sippe kennt einige der Gesänge, aber nur eine Frau oder ein Mann der Gesänge kennt sie alle, denn wer sie alle kennt, besitzt die Macht der Sippe. Die Geschichte erzählt, daß eines Tages jemand von einer benachbarten Sippe über den Fluß kam und beschloß, Merindas Macht zu rauben, damit er ihre Sippe vertreiben und die guten Jagd- und Fischgründe für sich nutzen konnte. Man sagt, er habe Merinda entführt und versucht, sie zu zwingen, ihm die Gesänge zu verraten. Aber sie weigerte sich und starb, ohne einen Ton zu sprechen. Damit rettete sie ihre Sippe.«
»Hat sich das an dieser Stelle ereignet?«
»Der Geschichte nach ist die Frau hier irgendwo in der Nähe gestorben.«
»Was ist aus den Ureinwohnern geworden, die hier lebten?« fragte Joanna.
»Die meisten sind tot. Als die ersten Siedler hier ankamen, so erzählt man sich, dachten die Schwarzen, die Weißen würden auf der Suche nach ihrer Heimat nur durchziehen. Aber als der weiße Mann blieb und begann, die Aborigines von dem Land ihrer Vorfahren zu vertreiben, brachen Kämpfe aus – sehr blutige Kämpfe. Wenn etwas von der Farm eines Weißen gestohlen wurde, ritt der Besitzer mit seinen Nachbarn los, und sie töteten wahllos alle Schwarzen, die ihnen begegneten, ganz gleich, ob sie etwas mit dem Diebstahl zu tun hatten oder nicht. Dann rächten sich die Schwarzen, indem sie die Farm in Brand steckten, die Familie des weißen Mannes ermordeten und seine Viehherden vernichteten. Die Rivalitäten entwickelten sich zu einem riesigen Gemetzel. Die Siedler haben unter dem Vorwand, ihr Land zu verteidigen, buchstäblich ganze Stämme abgeschlachtet. Die überlebenden Eingeborenen erlagen Krankheiten, gegen die sie nicht immun waren – Windpocken, Masern, Grippe. Man schätzt, daß in den ersten Jahren nach der Ankunft der Verbrecher in der einstigen Sträflingskolonie Australien Tausende von Aborigines allein an eingeschleppten Krankheiten starben.«
»Es dauerte nicht lange«, fuhr Hugh fort, »bis die Schwarzen, deren Familien und Sippen auseinandergefallen waren, das Gefühl ihrer Einheit und ihrer Kultur verloren. Sie trieben sich in der Nähe der Siedlungen herum und begannen zu betteln. Außerdem gewöhnten sie sich an Alkohol. Ihre Kinder mußten betteln, die Frauen wurden Prostituierte. Und das hat dazu geführt, daß das uralte Wissen verlorengeht. Ohne ihre Sippen haben die jungen Aborigines keine Möglichkeit mehr, die Sitten und Gesetze ihrer Ahnen zu lernen. Wenn das so weitergeht, dann wird ihre Kultur eines Tages ausgelöscht sein.«
Joanna blickte auf das grüne, von Hecken und Zäunen umgebene Weideland, das sich bis zum Fuß der Berge erstreckte. Sie sah vereinzelte, majestätische, alte Eukalyptusbäume und große Schafherden, die wie Ebbe und Flut über die Landschaft zogen. »Man kann sich nur schwer vorstellen«, sagte sie leise, »daß ein so schönes Land Schauplatz solcher Tragödien sein konnte.« Und dann fragte sie sich beklommen, ob den Aborigines, bei denen ihre Mutter möglicherweise einmal gelebt hatte, ein ähnliches Schicksal beschieden gewesen war.
»Wo ist Ihr Farmhaus, Mr. Westbrdok?«
Er deutete nach vorne: »Am Ende der Straße. Sehen Sie das Gebäude zwischen den Bäumen dort?«
Joanna blickte in die Richtung und nickte: »Ja, ich sehe es.«
Plötzlich rief Adam, der zwischen ihnen stand: »Farm! Eine Farm!«
Hugh und Joanna sahen ihn verblüfft an. »Oh, Adam«, sagte Joanna und legte ihm die Hand auf die Schulter, »du hast gesprochen. Du
kannst
also sprechen!«
»Farm!« wiederholte er aufgeregt und deutete auf das Haus. »Eine Farm!«
»Hm, hm«, sagte Hugh, »seit fünf Tagen kein Ton von ihm und jetzt plötzlich …« Er lachte. »Ich glaube, wenn wir wollen, daß er noch mehr sagt, müssen wir ihn schnell dorthin bringen.«
2
Den Hof der Farm umstanden eine Reihe Hütten aus allen möglichen Materialien, die offenbar gerade zur Hand gewesen waren – einige hatte man aus Stämmen und
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