Traumzeit
zu verfluchen? Können sie jemanden auf diese Art töten?«
»Ich kann nur sagen, sie haben eine gewisse Macht, und ganz sicher können sie jemanden verfluchen. Aber ich meine, es kommt darauf an, ob der Betreffende an die Macht des Fluches glaubt oder nicht.«
»Dann wäre man also vor dem Fluch sicher, wenn man einfach nicht daran glaubt?«
Ein Funken explodierte plötzlich im Feuer und flog durch die Luft.
»Sie glauben doch nicht ernsthaft, daß auf Ihnen ein Fluch liegt?« fragte Hugh ruhig.
»Ich weiß nicht«, sagte sie, »mir ist bewußt, daß es vermutlich schrecklich weithergeholt klingt. Aber ich muß dahinterkommen. Mr. Westbrook, wir haben Schwarze in Melbourne und auf dieser Straße gesehen. Gibt es auch Ureinwohner, die noch so leben wie früher? Ich meine, wie vor fünfunddreißig Jahren?«
»Sie möchten herausfinden, ob die Aborigines in Karra Karra immer noch die Macht haben, die Sie in Angst und Schrecken versetzt.«
»Leben diese Menschen vielleicht noch dort?«
Unter dem Eindruck ihrer sorgenvollen Frage antwortete Hugh: »Ich glaube, Miss Drury, die Aborigines, die im Busch leben, halten sich noch an die alten Sitten. Aber sie leben weit entfernt von hier tief im Landesinnern. Und das ist eine große gefährliche Wüste. Wie diese Menschen heute dort leben, weiß niemand genau. Mehr als eine Million Quadratkilometer dieses Kontinents sind noch ein unerforschtes Gebiet. Dort kann es alles mögliche geben, von dem wir nichts wissen.« Er lächelte. »Aber ich glaube, auf Ihnen liegt kein Fluch, Miss Drury. Nein, das glaube ich wirklich nicht.«
Sie blickte zum Himmel hinauf, zu den unbekannten Sternen und fragte sich, ob Karra Karra in weiter Ferne oder irgendwo in der Nähe lag. Würde sie es jemals finden? Und wie? Und wann? Dann dachte sie an ihre Mutter, an die Qualen und Ängste ihres Lebens. Am Ende hatte sie geglaubt, von etwas Schrecklichem, Unbekanntem verfolgt zu werden, das schließlich zu einem grausam frühen Tod führte. Joanna spürte, wie ihr plötzlich die Kehle trocken wurde. Eine schreckliche Angst erfaßte sie, und sie fühlte sich mutterseelenallein.
Westbrook sah den Schein der Flammen auf ihrem Gesicht, die Spannung in ihrem Körper, und sie erschien ihm sehr jung und sehr schön. Er suchte nach Worten und begann dann leise zu rezitieren:
»Denk an das lustige Lagerfeuer, Ein Licht, das funkelt und strahlt, Und am Lager sind so viele versammelt. Vor den Zelten sitzen die Männer; Sie erzählen schläfrig heitere Geschichten Und sie singen ihre Lieblingslieder. Durch die Kraft der Herzen und der Lungen stellt sich Frieden und Eintracht ein.«
Joanna sah ihn an und lächelte. »Das war schön«, sagte sie. »Von wem ist es?«
»Von mir. Ich vertreibe mir damit die Zeit, wenn ich die Schafe hüte.«
Ihre Blicke begegneten sich, während das Lagerfeuer langsam erlosch. Joanna senkte den Kopf, griff nach ihrem Schultertuch und legte es um. »Sind die Herbstabende hier immer so kalt?«
»Hier ist jetzt nicht Herbst, sondern Frühling.«
»Ach ja, natürlich. Das hatte ich ganz vergessen. Es ist schon merkwürdig, daß im Oktober Frühling ist …«
»Machen Sie sich keine Gedanken, Miss Drury«, sagte Hugh, »wir finden für Sie die Antworten. Schließlich haben wir ja ein Abkommen. Bald werden wir auf Merinda sein, und dann können wir auch darangehen, uns um Ihr Problem zu kümmern. Aber bis dahin kann ich Ihnen versichern,
ich
glaube nicht an die Macht von Flüchen oder an die Regenbogenschlange. Und deshalb sind Sie bei mir in Sicherheit.«
Kapitel Vier
1
»Soweit Sie sehen können«, sagte Hugh, »ist das alles Merinda.«
Joanna war fasziniert. Sie hatte den Eindruck, über ein Meer grüner, fruchtbarer Wiesen zu blicken, die sich über sanfte Hügel und Täler unter dem wolkenlosen Himmel bis zum Horizont erstreckten. Ein frischer Wind blies, bauschte ihren Rock und bog den Rand von Hughs Hut. Über ihnen zog ein Keilschwanzadler seine Kreise. In der Ferne erhoben sich dunstige Berge, deren Gipfel seltsam wie Wellenkämme geschwungen waren, als sei dieses Gebirge einst ein Meer gewesen, das gegen die Ufer brandete, jetzt aber zu Stein erstarrt war.
»Merinda hat erst fünftausend Schafe auf siebentausend Morgen Land. Aber die Farm wird noch wachsen«, erklärte Hugh.
»Warum heißt Ihre Farm Merinda, Mr. Westbrook?«
»Merinda ist der Name der Aborigines für diesen Ort. Er bedeutet ›die schöne Frau‹.«
»Wurde diese Stelle nach einer
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