Traumzeit
Indien hatte sie an die Universität geschrieben und um eine postlagernde Antwort nach Melbourne gebeten. Auf der Post in Melbourne wußte man inzwischen, daß sie auf Merinda wohnte.
Joanna dachte wieder über die rätselhaften Kakadufedern nach. Plötzlich fühlte sie sich beobachtet. Verstohlen blickte sie sich um.
Ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken, als sie Sarah sah, die junge Aborigine, die auf der Farm arbeitete. Sie stand regungslos im Schatten der Scherhütte und starrte Joanna ebenso unverwandt an wie damals Ezekial nach ihrer Ankunft auf Merinda. Die Vierzehnjährige musterte sie auf dieselbe beunruhigende Art wie der alte Mann. Joanna glaubte nicht, daß sie das aus schlichter Neugier tat, wie Hugh meinte. Joanna hatte den Eindruck, Sarah sei mißtrauisch und versuche, sie einzuschätzen.
Sie hatte Sarah schon mehrmals dabei überrascht, daß sie ihr nachspionierte. Joanna glaubte sich dann beobachtet, und wenn sie den Kopf hob, sah sie das Mädchen. Joanna hatte versucht, mit ihr zu sprechen, sich mit ihr anzufreunden, aber Sarah machte stets auf der Stelle kehrt und verschwand. »Sie spricht englisch«, hatte Hugh erklärt, als Joanna sich bei ihm nach Sarah erkundigte. »Ihr Englisch ist nicht sehr gut, aber sie kann sich verständlich machen. Ich glaube, Sie sind ihr unheimlich. Ich glaube, sie hat in dem Missionsdorf für Aborigines, in dem sie aufgewachsen ist, nicht viele weiße Frauen gesehen.«
Joanna fand Sarah hübsch. Sie hatte vorstehende Wangenknochen und große mandelförmige Augen. Sie trug die langen glänzenden mahagonibraunen Haare, die so dunkel wie ihre Haut waren, offen und zog einfache Kleider an, aber sie lief immer barfuß. Warum spioniert sie mir nur nach, fragte sie sich. Warum glaubte sie sich von ihr beobachtet? Sarah schien auf etwas zu warten. War sie für die seltsamen Dinge verantwortlich, die Joanna vor dem Haus gefunden hatte?
In diesem Augenblick erschien Bill Lovell, der Vormann, am anderen Ende des Hofs. Er trug etwas in den Armen. »Hallo!« rief er, »ich habe was für den Jungen.«
Joanna hatte Bill in den letzten Wochen nur selten gesehen, aber er war immer freundlich zu ihr gewesen. Er hatte weiße Haare und die vom Wetter gegerbte Haut eines Mannes, der sein Leben lang in der Sonne gewesen war. Die blauen Augen waren fast grau geworden, als habe er zu oft ins Licht geblickt.
Als er auf die schattige Veranda kam, öffnete er den Sack, und Joanna sah zwei winzige braune Augen in einem weichen, pelzigen Gesicht mit einer unglaublich großen Nase, einem weißen wuscheligen Kinn und seltsamen Ohren. Sie war fasziniert. Noch nie zuvor hatte sie einen Koalabären aus unmittelbarer Nähe gesehen.
»Ich habe ihn am Fluß oben entdeckt. Er lag auf dem Boden«, erzählte Bill. »Ich glaube, er ist etwa acht Monate alt und noch nicht ganz ausgewachsen. In der Nähe lag ein totes Weibchen. Ich nehme an, es war die Mutter. Man hatte sie erschossen. Vermutlich hat ein Jäger sich Koalabären für seine Schießübungen ausgesucht. Ich dachte, Adam freut sich vielleicht über den Kleinen.«
»Adam!« rief Joanna, »komm und sieh dir an, was Mr. Lovell dir mitgebracht hat.« Sie warf einen Blick zur Scherhütte und sah, daß Sarah verschwunden war.
»Sie sind im Grunde eine Plage«, sagte Bill, »das wissen Sie sicher auch, Miss Drury.«
»Ja, Mr. Lovell, ich habe es gehört!« Die Koalabären ließen in letzter Zeit niemanden schlafen. Es war ihre Paarungszeit. Nächtelang stießen die Männchen ihre Rufe aus, und das Geheul der Weibchen raubte allen den Schlaf. Die Jäger waren angewiesen worden, sie abzuschießen. »Nun ja«, sagte der Vormann, »aber ich konnte den kleinen Kerl nicht einfach den Dingos überlassen.«
»Schau mal, Adam. Wie findest du ihn?« sagte Joanna und setzte den kleinen Koala dem Jungen auf den Arm. »Du mußt sehr behutsam mit ihm umgehen, denn er ist noch sehr klein.«
»Ko-la!« sagte Adam und strahlte.
»Nein, Adam«, korrigierte ihn Joanna, »das ist ein Koala. Kannst du ›Koala‹ sagen?«
Adam zog die Augenbrauen zusammen und die Falte auf seiner Stirn wurde tiefer. »Ko-ah-la«, sagte er.
Bill Lovell sagte: »Koala ist ein Wort der Aborigines und bedeutet ›trinkt nicht‹. Weißt du, es sind eigentlich keine Bären. Und sie sind wirklich komisch. Sie hängen den ganzen Tag in den Bäumen und betrinken sich mit Eukalyptussaft. Außerdem ist etwas falsch an ihnen. Ihre Beutel öffnen sich nicht wie bei den
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